Abitur 2020: Von Gipfelstürmern und Bergrettern

WORT ZUM SONNTAG: Heute Andreas Reichel

10.07.2020 | Stand 02.12.2020, 11:00 Uhr
Andreas Reichel. −Foto: privat

Liebe Leserinnen und Leser,am kommenden Freitag werden an unserer Schule die Abiturzeugnisse verliehen.

 

Normalerweise würde am Freitagnachmittag die große Mehrheit unserer Abiturientinnen und Abiturienten zusammen mit ihren Eltern, Großeltern und anderen Verwandten in St. Jakob zu einem ökumenischen Dankgottesdienst zusammenkommen. Es ist jedes Jahr ein wunderbarer Anblick: Die jungen Erwachsenen und auch die Begleiter tragen bereits ihre festliche Kleidung für die anschließende Zeugnisverleihung und den abendlichen Abiturball, das Glück, der Stolz und die Vorfreude auf eine lange Partynacht stehen ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Glückshormone lassen sich fast mit Händen greifen, die Atmosphäre im Kirchenraum ist fröhlich und beschwingt. Ebenso beschwingt ist die musikalische Gestaltung, die von den Schülerinnen und Schülern oft selbst übernommen wird. Wer diese Stimmung einmal miterleben durfte, versteht den Stellenwert dieses "letzten" gemeinsamen Schulgottesdienstes und mein Bedauern über die Absage desselben wegen der Corona-Pandemie.
Daher gestatten Sie es mir bestimmt, dass ich ein paar kurze Worte an unsere "imaginären Gottesdienstbesucher" richte.
"Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ich möchte eure Schulzeit mit einer Bergwanderung vergleichen. Heute steht ihr am Gipfel und habt ein grandioses Panorama vor Augen. In eurem Rucksack habt ihr euer Abiturzeugnis, ihr seid ganz oben angekommen. Herzlichen Glückwunsch! Aber in den vergangenen Jahren habt ihr erlebt, dass der Aufstieg zum Gipfel manchmal schweißtreibend sein kann. Die Wege zum Erfolg sind steil, manchmal auch rutschig und gefährlich. Einige haben unterwegs Blessuren davongetragen. Und doch seid ihr am Gipfel angekommen und habt dabei auch noch kurz vor dem Ziel den "Corona-Klettersteig" unbeschadet überstanden. Es gab im Vorfeld auch Stimmen, die die letzten Meter vor dem Ziel am liebsten mit der Seilbahn zurückgelegt hätten, also das Abiturzeugnis ohne Abschlussprüfung erhalten wollten. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass alle erfolgreichen "Gipfelstürmer 2020" jetzt stolz darauf sind, dass sie das Ziel aus eigener Kraft erreicht haben und nicht in die viel bequemere Bergbahn eingestiegen sind. Die ganze Zeit über hattet ihr wichtige Helfer an eurer Seite: Da sind zum einen die "Hüttenwirte", eure Eltern, die euch immer wieder aufgepäppelt und gestärkt haben. Und zum anderen die "Bergführer", eure Lehrer, die sich im Schulgebirge gut auskennen und euch immer wieder einen Weg zum Gipfel gezeigt haben. So, und was seht ihr von dort oben? Viele andere Gipfel, die ihr auf eurem weiteren Lebensweg erklimmen werdet. Dazwischen sind aber immer wieder auch Täler, Momente im Leben, in denen es auch mal wieder abwärts geht. Ihr werdet in der Zukunft andere Begleiter, andere Hüttenwirte und Bergführer auf eurem Weg finden. Ihr werdet im Leben Berge besteigen, von denen ihr momentan noch gar nicht wisst, dass es sie gibt. Ich wünsche euch immer wieder das Glücksgefühl, das sich einstellt, wenn man wieder einen Gipfel "bezwungen" hat. Und: wer im Alpenraum wandert, kennt auch die Tradition der Gipfelkreuze. Sie erinnern uns daran, dass Gott auf unserem Weg "mitwandert". Er begleitet uns nicht nur auf die Gipfel, er geht auch mit uns durch die Täler unseres Lebens. Natürlich ist es beglückend, schwierige Wege ganz aus eigener Kraft zu schaffen. Aber es ist auch schön zu wissen, dass wir in Gott einen unaufdringlichen Begleiter an unserer Seite haben. Vielleicht kann er in so manchen gefährlichen Situationen in der Zukunft auch zu eurem "Bergretter" werden. Die Zukunft beginnt erst morgen - heute könnt ihr erst einmal den wunderbaren Ausblick vom Berggipfel genießen. Ihr habt es euch verdient. . . "

Andreas Reichel unterrichtet Englisch und Katholische Religionslehre am Gymnasium Schrobenhausen.