35 Jahre danach: Ermittler suchen Zeugen für Wiesn-Attentat

22.05.2015 | Stand 02.12.2020, 21:16 Uhr
Das blutige Oktoberfestattentat von 1980 soll endlich vollständig aufgeklärt werden. −Foto: Frank Leonhardt/ dpa

München/Karlsruhe (dpa) Viele Zeugen hatten sich gemeldet. Und viele, so der Vorwurf von Opfervertretern, wurden nicht ernst genommen, nicht ausreichend gehört. Das soll nun anders werden. In einem Aufruf wenden sich Bundesanwaltschaft und Bayerisches Landeskriminalamt an die Bevölkerung: "Wer war am 26. September 1980 auf der Münchner Theresienwiese und hat das Tatgeschehen beobachtet oder kann sonst Angaben zu dem Attentat machen?" Der Aufruf liest sich, als wäre es gerade passiert. Aber das alles liegt fast 35 Jahre zurück.

Am 26. September 1980 um 22.19 Uhr riss die Bombe aus 1,39 Kilo TNT ein Dutzend Wiesn-Besucher und den Attentäter Gundolf Köhler in den Tod und verletzte mehr als 200 Menschen. Der schwerste Anschlag der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Ermittler kamen zu dem Schluss: Köhler, ehemals Anhänger der Wehrsportgruppe Hoffmann, beging die Tat allein und aus privatem Frust. Sie schlossen die Akten.

"Es ist sicher eine zweistellige Zahl von Zeugen, die Bekundungen abgegeben hat, dass Köhler nicht allein war", sagt der Reporter Ulrich Chaussy vom Bayerischen Rundfunk. "Nach Mitte November 1980, nachdem man sich auf die Einzeltäterthese festgelegt hatte, sind ihre Aussagen nicht mehr beansprucht worden." Chaussy ging stets von politisch motivierten Vertuschungen aus. Opfervertreter und Politiker diverser Parteien glaubten immer an einen rechtsextremen Hintergrund.

Jetzt sucht die neue Soko Zeugen, "die noch Angaben machen, die sie bisher nicht gemacht haben - aus welchen Gründen auch immer", sagt ein LKA-Mitarbeiter. Die Ermittler bitten auch Medien um Bilder und Filmaufnahmen, "die auch Aufschluss geben können über die Zeit vor oder nach der Explosion." Für Chaussy, der viele Ungereimtheiten aufdeckte, wirft der Aufruf ein Schlaglicht auf frühere Versäumnisse. Chaussy hatte wie der Anwalt Werner Dietrich jahrzehntelang recherchiert und für eine Wiederaufnahme der Ermittlungen gekämpft.

Im Dezember 2014 hatte Dietrichs dritter Wiederaufnahmeantrag Erfolg. Ein Grund war eine neue Zeugin: Sie gab an, sie habe am Tag nach dem Anschlag Flugblätter mit einem Nachruf auf Köhler gefunden - bevor dessen Name öffentlich bekannt war. Sie hatte damals Sprachkurse in einer Aussiedler-Unterkunft gegeben und wollte eine Jacke in einen Schrank hängen. Dort sah sie neben den Flugblättern zwei Pistolen. Sie sei zur Polizei gegangen, aber abgewimmelt worden, sagt Dietrich.

Als wichtiger Zeuge galt anfangs ein Homosexueller, dem Köhler gefiel - und der deshalb genau hinsah. Er beobachtete den 21-jährigen Studenten an der Wiesn mit einer Plastiktüte mit einem konischen Gegenstand im heftigen minutenlangen Gespräch mit zwei anderen. Auch seine Aussagen wurden nicht ernst genommen. Eine junge Frau sah laut Chaussy neben einem zerfetzten Leichnam einen Mann, der gerufen haben soll: "Helft mir, helft mir, ich kann nichts dafür, bringt mich um." Chaussy sagt: "Diese Frau hat man ein einziges Mal noch einvernommen, im Oktober. Dann hat sie nie wieder was von der Polizei gehört."

Sehr vieles ist offen. Waren V-Leute deutscher Geheimdienste verstrickt? Grüne und Linke wollen über das Verfassungsgericht die Herausgabe entsprechender Informationen erzwingen. Beweismittel wurden vernichtet. Das Fragment einer abgerissenen Hand vom Tatort wurde in der Rechtsmedizin untersucht - und verschwand, bis heute.

Wie viele Zeugen sich bei der neuen Soko gemeldet haben, darüber schweigen die Ermittler. Die Sprecherin des Generalbundesanwalts, Frauke Köhler, hat aber angekündigt: "Bis Jahresende wird sicher ein erstes aussagekräftiges Zwischenresümee gezogen werden können."