Ismaning
3000 Daten in 90 Minuten

Unternehmen in Ismaning erfasst während der Fußball-WM sämtliche Statistiken

30.06.2014 | Stand 02.12.2020, 22:31 Uhr

Tor für Deutschland: Robert Klinger hält den Elfmetertreffer von Thomas Müller zum 1:0 gegen Portugal sofort fest. - Foto: Wenisch

Ismaning (DK) Die Fans werden während der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien rund um die Uhr mit Statistiken zu den Spielen versorgt. Erhoben werden die Daten unter anderem von einer Firma aus Ismaning. Das Turnier verlangt den Beobachtern alles ab.

Als Thomas Müller im Auftaktspiel gegen Portugal in der 78. Minute mit seinem dritten Tor den 4:0-Endstand herstellte, gab es in deutschen Wohnzimmern und bei Public-Viewing-Veranstaltungen kein Halten mehr. Überall wurde der Treffer frenetisch bejubelt. Etwas nüchterner war dagegen die Analyse des Treffers bei der Firma Impire. Dort hieß es nur: „Schürrle kurz – Patricio – Müller Torschuss – Tor Müller.“

Mit solchen Codes wird bei dem Unternehmen in Ismaning jedes der WM-Spiele kommentiert und die Aktionen damit statistisch erfasst. Zweikampfquoten in der Luft und am Boden, Torschuss mit links oder rechts, oder die Zahl der angekommenen langen Bälle – kein Detail bleibt unbeobachtet. Pro Spiel werden in etwa 3000 Daten festgehalten, wie Robert Klinger, stellvertretender Leiter der Spielbeobachtung bei Impire, erläutert. Schon alleine durch die anfallende Datenmenge sei eine Aussage über die Qualität des Spiels möglich. „Bei einem Zweitliga-Spiel fallen bis zu 4000 Daten an, weil es viele Zweikämpfe gibt, die mit vielen Kommandos festgehalten werden“, sagt der 39-Jährige. Bei einem Spiel des FC Barcelona auf dem Höhepunkt des „Tiki-Taka-Fußballs“ entstand dagegen nur die Hälfte der Datenmenge. Der Weltmeisterschaft attestiert Klinger bisher ein fast durchweg hohes Niveau.

Den Spielbeobachtern wird in den viereinhalb Wochen wegen der späten Anstoßzeiten alles abverlangt. Denn mit dem Schlusspfiff ist die Auswertung noch lange nicht abgeschlossen. „Die Daten werden zwar in Echtzeit erhoben, der sogenannte Observer bearbeitet das Spiel anschließend aber nach, um eventuelle Fehler zu beheben und weitere Details auszuwerten“, erklärt Klinger. Das dauere etwa drei bis vier Stunden.

Während der Spiele sind drei Mann mit der Datenerhebung vor dem Fernseher beschäftigt. Der Speaker spricht jede Aktion in den knappen Codes mit, die der Writer sofort eintippt. Kompliziertere Aktionen wie Zweikämpfe werden vom Observer registriert, der während des Spiels ständig vor- und zurückspult. Damit die Erhebung reibungslos abläuft, ist vor allem für den Speaker eine gute Vorbereitung unerlässlich. Die Gesichter auf Fußball-Bildchen auswendig zu lernen, um die Spieler zuzuordnen, helfe allerdings nicht weiter, weil diese auf dem Fernseher oft schwer zu erkennen sind. Wichtig ist es dagegen, die taktische Aufstellung zu verinnerlichen, um zu wissen, wo ein Spieler zu erwarten ist. Zum Problem wird dies aber bei Begegnungen wie Nigeria-Iran: „Da hat sich niemand an taktische Vorgaben gehalten und jeder ist überall rumgelaufen. In solchen Partien helfen dann nur noch Erkennungsmerkmale wie die Schuhfarbe oder Schweißbänder weiter“, erklärt der Spielbeobachter.

Besonders Einsteiger müssen eine enorme Konzentration aufbringen, um Zuordnungsfehler und falsche Codes zu vermeiden. „Als ich angefangen habe, war ich so auf die Situation fokussiert, dass ich oft gar nicht wusste, wie es überhaupt steht“, blickt Klinger zurück. Nach zwölf Jahren habe er aber die Routine, um Spiele entspannter anzugehen. „Für mich ist wichtig, dass ich während eines Großevents wie der WM, bei dem ich 39 Spiele beobachte, Abstand gewinne“, sagt er. Außerhalb der Arbeit schaue er daher derzeit kein Fußball. Nach einer Auszeit könne er ein Spiel dann aber auch wieder genießen.

Die in Ismaning erhobenen Daten landen direkt in diversen Redaktionen. Auch ARD und ZDF greifen auf die Auswertungen zurück, um ihre Kommentatoren mit interessanten Details zu versorgen. Zudem nutzen Verbände und Vereine die Statistiken, um herauszufinden, ob ihre Spieler eher Ausdauer- oder Taktiktraining benötigen.

Der Eindruck, dass die Datenflut in den vergangenen Jahre deutlich zugenommen hat, täuscht im Übrigen: „Wir erheben seit 1992 Daten in sehr hoher Tiefe“, erklärt Marketing-Manager Fabian Winckler. „Es werden heute nur mehr Details von den Redaktionen abgefragt.“ Neu sei in der jüngeren Vergangenheit lediglich das sogenannte Tracking. Dabei verfolgen Spezialkameras die Laufwege der Spieler und messen die zurückgelegte Distanz oder die Zahl der angezogenen Sprints. Pass-, Schuss- oder Zweikampfstatistiken werden aber weiterhin von Menschenhand erfasst und bescheren den Spielbeobachtern noch viele schlaflose WM-Nächte.