Ingolstadt
1507 Geburten in einem Jahr ein Rekord?

19.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:40 Uhr

Das erste Baby im neuen Klinikum: Cemule Cetin kam am 25. Juni 1982 gegen 0.45 Uhr zur Welt. Sie wog 3950 Gramm und war 53 Zentimeter groß. OB Peter Schnell gratulierte den Eltern Fatma und Aibidin Cetin und deren Kindern. ‹ŒArch - foto: Wolf

Ingolstadt (sic) Christian Lösel war in Rekordlaune: "2721 Geburten in Ingolstadt im vergangenen Jahr - ein historischer Höchststand!", rief der OB im Januar am Ende seiner Neujahrsrede in den Festsaal. Hat er recht? Einerseits: ja.

Andererseits: nun ja.

Zunächst eine formale Bemerkung: 2721 ist die Gesamtzahl der Geburten in Ingolstadt. Kinder, die nicht in der Stadt aufwachsen, werden von den Ingolstädter Statistikern abgezogen. Wofür die Damen und Herren in der Stadtverwaltung, die en masse neue Kindertagesstätten und Schulbauten planen müssen, gewiss Gott danken, denn im vergangenen Jahr kamen 1507 Ingolstädter Kinder auf die Welt. Das ist eine Menge. Aber ein Rekord?

Wenn man allein die Zahl betrachtet zweifellos. 1960 gab es in Ingolstadt 861 Lebendgeborene, wie es amtlich korrekt heißt. 1963 überstieg die Geburtenzahl erstmals die 1200er-Marke, doch 1969 fiel sie wieder deutlich unter 1000. Im Jahr 1990 meldete Ingolstadt erneut mehr als 1200 Geburten. Auffälligerweise blieb dieser Wert Jahr für Jahr nahezu konstant, bis 2013 der Babyboom einsetzte. In der gleichen Zeit schoss die Zahl der Einwohner nach oben. Von 100 000 Ende 1989 auf fast 140 000 heute.

Hier zeigt sich, wie problematisch es ist, einen "historischen Höchststand" bei den Geburten festzulegen. Denn ein Rekord erfordert ein einheitliches Bezugssystem. Doch in einer sich kräftig wandelnden Gesellschaft ändern sich die Relationen ständig. 1200 Geburten hatten im Jahr 1964 eine völlig andere Dimension als heute, weil Ingolstadt damals 67 700 Einwohner zählte - halb so viele wie heute. Auch die Sozialstruktur der Bundesrepublik unterschied sich zwei Jahrzehnte nach Kriegsende signifikant. Es gab zum Beispiel wesentlich weniger Alte oder Einwanderer (die noch Gastarbeiter hießen).

In der Gesellschaft dominierte ein Familienbild, das man heute - einen fundamentalen sozialen und mentalen Wandel später - als "traditionell" bezeichnet. Bis Mitte der 1960er-Jahre bekam in Deutschland eine Frau im Schnitt 2,5 Kinder. Heute sind es 1,5. Ein gewaltiger Unterschied, nicht nur im Lichte der Rentenversicherung.

Im Jahr 1964 gab es die meisten Geburten in der deutschen Nachkriegsgeschichte: 1,23 Millionen. Diese riesige Kinderschar kam 1970 in die Schule. Darunter waren 1200 Ingolstädter Erstklässler. 1200!

Im laufenden Schuljahr, 48 Jahre später, sind es indes "nur" 1170 Erstklässler - in einer doppelt so großen Stadt. Das Beispiel zeigt: Der Aussagewert einer Zahl hängt immer auch vom historischen Kontext ab.

Den Verwaltungskräften, die für die nächste Babyboomergeneration Kindergärten und Schulen planen müssen, dürften derlei soziologische Betrachtungen eher wurscht sein. Die Herausforderungen, die auf sie zukommen, sind so oder so rekordverdächtig.