Interview mit Julian Nida-Rümelin
„Das ist echtes Politikversagen“

19.04.2024 | Stand 19.04.2024, 15:00 Uhr

Das Symbol der demokratischen Freiheit bröckelt. Fotos: Dall-E, KI-generiert, Diane von Schoen

Herr Prof. Nida-Rümelin, befindet sich unser demokratisches Staatssystem in der Krise?
Julian Nida-Rümelin: Wir befinden uns tatsächlich in einer ernsten Krise unserer Staatsform – etwa wenn man auf die Gründerstaaten der westlichen Demokratie schaut: auf Frankreich, Großbritannien und die USA. Ausgerechnet diese drei Vorbild-Staaten der Demokratie befinden sich seit Langem in der Krise. Die USA etwa keineswegs erst seit der Wahl Donald Trumps 2016. Das hatte vielmehr eine lange Vorgeschichte.

Woran äußert sich die Krise?
Nida-Rümelin: Etwa in der Tatsache, dass die zwei Parteien, Republikaner und Demokraten, sich feindlich gegenüberstehen, sich mit Diffamierungen überziehen und ein sachlicher, rationaler Austausch selbst im Parlament nicht mehr möglich ist. Man sieht das etwa daran, dass aus wahltaktischen Gründen eine Einigung über Hilfsleistungen für die Ukraine immer wieder von den Republikanern sabotiert wird. Großbritannien befindet sich in einer schleichenden Verfassungskrise, spätestens seit der Brexit unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erreicht wurde. In Frankreich ist das Problem, dass die Machtfülle des Präsidenten fast schon monarchische Dimensionen einnimmt. Nun lassen Umfragen befürchten, dass als Nachfolgerin von Macron sich die rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen durchsetzen könnte – eine EU-Gegnerin, die mit dem Gedanken spielt, aus dem Bündnis auszutreten.

Und wie sieht es mit Deutschland aus?
Nida-Rümelin: Deutschland steht vergleichsweise gut da. Das hängt auch damit zusammen, dass der Rechtsstaat, das Verfassungsgericht, unangefochten ist – anders als etwa in Ungarn oder auch in Israel. Aber auch hier gibt es mit der AfD eine rechtspopulistische Bewegung, die möglicherweise in einigen Bundesländern so stark sein wird, dass es nicht möglich ist, ohne sie eine Regierung zu bilden – außer vielleicht mit einer Koalition aller demokratischen Parteien. Das allerdings tut der Demokratie nicht gut.

Und es gibt inzwischen eindrucksvolle Alternativen zur demokratischen Staatsform.
Nida-Rümelin: Ja, da ist China zu nennen. Ein Land, das nicht als ineffektive, technologisch rückständige Diktatur mit schlechten Wirtschaftsdaten dem Westen gegenübersteht, wie die Ostblockstaaten zu Zeiten des Kalten Krieges. China ist eine Supermacht mit hohen Wachstumsraten, die in oft sehr viel effizienterer Weise Großprojekte realisiert, als demokratische Staaten das vermögen. Die westlichen Staaten reagieren auf die Herausforderung Chinas in einer ungeschickten Art. In den 1990er Jahren hätte es noch Möglichkeiten gegeben, sich gut aufzustellen unter Einbeziehung Russlands und Chinas, mit einer geeigneten Sicherheitsarchitektur und einer internationalen Rechtsordnung. Nun ist es dafür zu spät, westliches Auftrumpfen wirkt angesichts der neuen Machtverhältnisse kontraproduktiv, die zweite Supermacht China hat sich etabliert und der globale Süden laviert zwischen dem Westen und dem sich formierenden neuen Osten.


Fast überall also befinden sich demokratische Staaten in der Krise. Da muss es doch so etwas wie eine gemeinsame Ursache geben?

Nida-Rümelin: Mein Befund ist, dass die Rolle der Zivilkultur in der Demokratie unterschätzt wird. Es geht dabei auch um kulturelle Alltagspraktiken des Umgangs miteinander. Das Projekt der Demokratie beruht auf einer Kultur der Aufklärung – darauf, dass man sich zum Beispiel wechselseitig respektvoll zuhört, dass Argumente ausgetauscht werden und dass wir uns in einer Demokratie nicht in einem Freund-Feind-Verhältnis gegenüberstehen, sondern in einem Verhältnis des Ringens um die beste Lösung für die Bürgerinnen und Bürger.

Was für eine Rolle spielen hier die Medien?
Nida-Rümelin: Der Hauptunterschied zwischen sozialen Medien wie Facebook und den traditionellen Medien ist das Gatekeeping: Vor der Veröffentlichung ist in den traditionellen Medien eine Redaktion vorgeschaltet, so dass nicht jeder Quatsch abgedruckt wird. Studien belegen, dass Positionen, die besonders emotionalisiert sind, die besonders polemisch und radikal Stellung beziehen, mehr Chancen auf Verbreitung in den sozialen Medien haben als gemäßigte Stimmen, unabhängig von ihrem inhaltlichen Wahrheitsgehalt.

Benötigen wir eine stärkere gesetzgeberische Regulierung der sozialen Medien?
Nida-Rümelin: Der Grundfehler ist bereits dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton unterlaufen. In der Frühzeit der neuen Medien ist entschieden worden, sie grundsätzlich anders zu behandeln als andere Medien. Normalerweise verantworten Medien das, was publiziert wird. Es war tatsächlich eine Entscheidung des Präsidenten, hier keine Restriktionen aufzuerlegen. Man wollte, dass sich soziale Medien überhaupt erst mal entfalten können. Ein grober Fehler, der nicht wiedergutzumachen ist. In Europa gibt es seit 2016 die Datenschutzgrundverordnung, die versucht, einzufangen, was einzufangen ist. Trotz einiger Anstrengungen des Gesetzgebers bleibt das jedoch Grundproblem bestehen: die monopolartige Struktur der Big Five im Silicon Valley und die umfassende Kommerzialisierung der digitalen Kommunikation. Ihre Infrastruktur liegt in den Händen weniger US-Großkonzerne, die einen Aktienwert haben, der zum Teil höher ist als Staatshaushalte. Die sind nicht kontrolliert. Kamala Harris, die derzeitige Vizepräsidentin, hat am Anfang ihrer Amtszeit noch verkündet, diese Konzerne zerschlagen zu wollen. Das Projekt ist längst kassiert aus naheliegenden Gründen, denn niemand will sich das Wohlwollen dieser Konzerne verscherzen. Ich mache mir da keine Hoffnung, dass sich in den USA etwas Wesentliches verändert.

Was für Möglichkeiten gibt es in Europa, hier besser zu verfahren?
Nida-Rümelin: Eine Möglichkeit wäre es, alternative Infrastrukturen für digitale Kommunikation zu errichten, die nicht im Eigentum von globalen Großkonzernen sind, sondern öffentlich verantwortet.

Meiner Ansicht nach gibt es ein zentrales Problem bei allen Demokratiekrisen, das gerne übersehen wird: das Problem der Migration. Warum ist das so?
Nida-Rümelin: Da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Nehmen wir das Beispiel der AfD. Die Partei hat sich ursprünglich etabliert als euroskeptische Protestpartei, getragen von einigen Ökonomieprofessoren. Da ging es um den Euro und die Behandlung Griechenlands. Als die Krise halbwegs überwunden war, befand sich die Partei in Umfragen im freien Fall. Als 2015/16 die Migrationskrise aufkam, war die AfD plötzlich wieder im Höhenflug. Dieses Muster hat sich mehrfach wiederholt – auch in anderen Ländern wie Frankreich.

Wie soll man mit dem Problem umgehen?
Nida-Rümelin: 2015/16 hatten wir die schwere Migrationskrise. Jetzt haben wir das Jahr 2024: So lange hat es gedauert, bis die Europäische Union die institutionelle Kraft hatte, eine neue Migrationspolitik zumindest versuchsweise in Gang zu setzen. Das ist echtes Politikversagen.

Wie also sieht eine kluge Migrationspolitik aus?
Nida-Rümelin: Ich habe dazu vor Jahren ein ganzes Buch geschrieben, eine Ethik der Migration entwickelt, das kann ich hier nicht in zwei Sätzen zusammenfassen. Es ist angesichts der demografischen Entwicklung zweifellos im Interesse der aufnehmenden Länder, dass Migration stattfindet. Gleichzeitig ist es an politischer Naivität nicht zu überbieten, zu meinen, also sei jede Form der Migration gleichermaßen willkommen. Migranten, die zum Beispiel aus Kriegsgebieten zu uns kommen, benötigen vorübergehend Schutz und sollten nach Ende des Krieges zügig in ihre Heimatländer zurückkehren und sich am Wiederaufbau beteiligen. Wir können diesen Menschen kein dauerhaftes Bleiberecht gewähren, das schadet auch den Herkunftsländern. Diejenigen, die aus dem subsaharischen Afrika zu uns kommen, gehören dort nicht zur Unterschicht, zu den am meisten Notleidenden. Denn diese Menschen können nur mit beträchtlichen finanziellen Mitteln nach Europa kommen – in den meisten Fällen mehr als 10 000 US-Dollar pro Kopf. Afrika hat ein massives Bevölkerungswachstum. Manche Leute meinen, dass es doch selbstverständlich wäre, dass wir einen wesentlichen Teil dieser zusätzlichen Menschen aufnehmen müssten. Diese Vorstellung ist völlig absurd in Anbetracht der Tatsache, dass in Afrika Mitte dieses Jahrhunderts ca. 2,5 Milliarden Menschen leben werden, die EU aber lediglich eine Bevölkerung von etwas über 400 Millionen hat. Das Thema ist hochkomplex, und so wie es bisher politisch angegangen wurde, mit all den Mythenbildungen und Illusionen, hat es dem Rechtspopulismus permanent Nahrung gegeben.

Was halten Sie von Modellen, unser demokratisches System fortzuentwickeln – etwa durch Bürgerräte. Immerhin beruhen sie in einem gewissen Sinne auf der ursprünglichen Idee der Demokratie in der Antike: nicht der Wahldemokratie, sondern der Losdemokratie?
Nida-Rümelin: Ich halte eine Losdemokratie für eine hochriskante Angelegenheit, weil ein hoher Kompetenzverlust damit einherginge, wenn zufällig ausgewählte Menschen komplexe Entscheidungen treffen sollen. Bei Bürgerräten geht es allerdings um etwas anderes. Sie sollen die Politik lediglich beraten. Hier befassen sich zufällig ausgewählte Menschen meist mit einem zentralen Thema. Für die Politik in den Parlamenten ist es hochinteressant zu sehen, wie Menschen, die nicht aus dem politischen System kommen, die nicht in Parteien engagiert sind, mit solchen Themen umgehen. Wenn Bürgerräte aber echte Entscheidungskompetenz erhielten, dann käme das einer Delegitimierung der gewählten Volksvertreter gleich.

Was ist für die Zukunft zu erwarten, wenn der Worst Case eintritt: Trump gewinnt die Wahl?
Nida-Rümelin: Die Risiken sind real. Trump könnte durchaus die Wahl gewinnen. Die Folgen wären ambivalent: Innenpolitisch wäre die US-Demokratie in Gefahr bis hin zu dem Alptraum, dass Trump am Ende seiner Amtszeit seine Anhänger mobilisiert, um nicht abtreten zu müssen; außenpolitisch war Trump in den Jahren 2016 bis 2020 mit dem Einsatz von Militär sehr zurückhaltend. Er hat eine merkantile Handlung, es geht ihm in der internationalen Politik ums Geschäftemachen. Kriege stören da. Das könnte zu einem ernsten Konflikt mit China führen, einem Land, dem es auch vorwiegend um die wirtschaftliche Prosperität und dessen Importe Arbeitsplätze und Branchen in den USA gefährden. Überall sonst, etwa im Nahen Osten könnte es eher zu einer Deeskalation der Konflikte kommen.

Und was würde das für die Ukraine bedeuten?
Nida-Rümelin: Trump verspricht ja, den Konflikt innerhalb von 24 Stunden zu lösen. Ich kann mir nicht vorstellen, was er da vorhat, vielleicht ist es auch nur Wahlkampf-Getöse. Trump wird allerdings nicht auf einen umfassenden Sieg der Ukraine setzen. Und der ist in der Tat völlig unrealistisch. Der Versuch, das zu erreichen, wäre mit weiterem schrecklichem Blutvergießen verbunden, der vermutlich auch nicht die Zustimmung der Menschen in der Ukraine finden würde.

DK



Das Interview führte

Jesko Schulze-Reimpell.


Julian Nida-Rümelin wird am Samstag, 20. April, 19.30 Uhr, einen Vortrag im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt halten. Der Titel der Veranstaltung: „Die Gefährdung der Demokratie und die Rolle der Zivilkultur für ihre Rettung“.

ZUR PERSON

Julian Nida-Rümelin (69) ist Rektor der Humanistischen Hochschule Berlin. Er war bis 2020 Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie und politische Theorie an der LMU München und Kulturstaatsminister im ersten Kabinett von Kanzler Gerhard Schröder.