Interview zu den Literaturtagen
Die vergessenen Frauen der Gruppe 47: Nicole Seifert hat die Geschichte der Literatenvereinigung neu geschrieben

17.04.2024 | Stand 19.04.2024, 11:47 Uhr

Es wurde mit zweierlei Maß gemessen: Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Günter Eich 1952 während der Tagung der Gruppe 47. Foto: dpa

Frau Seifert, Ihr Buch heißt „Einige Herren sagten etwas dazu“.Warum haben Sie dieses Zitat von Ingeborg Bachmann als Titel gewählt?
Nicole Seifert: Als ich im Laufe meiner Recherchen auf das Zitat gestoßen bin, dachte ich mir: Das bringt auf den Punkt, worum es im Buch geht und ist – aus Autorinnensicht – gleichzeitig selbstbewusst und ironisch.

Sie haben die Geschichte der Gruppe 47 neu geschrieben – weil Sie ein wichtiges Kapitel hinzugefügt haben: Die Rolle der schreibenden Frauen wurde bisher kaum beleuchtet. Warum nicht?
Seifert: In den 50er Jahren wurde das Männliche in unserer Gesellschaft als stärker und wichtiger bewertet. Damals war man der Ansicht: Die Frauen dürfen gern dabei sein, aber wichtig ist das, was von den Männern kommt.

Und wie entstand die Idee zu dem Buchprojekt?
Seifert: In meinem letzten Buch „Frauenliteratur – Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“ habe ich mir das Phänomen der Benachteiligung der Autorinnen im Literaturbetrieb unter verschiedenen Aspekten angeschaut: Welchen Beitrag haben die Verlage, welchen die Presse, was ist historisch bedingt? Schwer zu greifen fand ich den Anteil der Literaturkritik. Ihre Bewertung hat zur Folge, dass Autorinnen im Kanon, in der Schule kaum vorkommen. Aber wie genau passiert das? Das wollte ich genauer untersuchen – nicht an einer exemplarischen Autorin, sondern an einer Gruppe von Autorinnen. So kam ich schnell auf die Gruppe 47 – und auf sehr viele unterschätzte Autorinnen, denen man oftmals gar nicht erst Zutritt zu diesem Kreis gewährte.

Wie aufwendig waren die Recherchen?
Seifert: Ein ganz wichtiger Ausgangspunkt für mich war die Dissertation von Wiebke Lundius über „Die Frauen in der Gruppe 47“ – auch wenn ich ein ganz anderes Buch geschrieben und andere Schlüsse gezogen habe. Aber ihre Arbeit war schon allein deshalb wichtig, um zu sehen, welche Autorinnen waren überhaupt bei welchen Treffen dabei? Denn das ließ sich in den Geschichten der Gruppe 47 kaum finden. Dann dann habe ich alles an autobiografischem Material gelesen, was ich über die Frauen finden konnte, merkte aber bald, dass ich mir unbedingt ansehen musste, was die Männer über die Frauen geschrieben haben. Denn nur das erklärt, warum sie so in der Versenkung verschwunden sind oder warum wir so ein seltsames Bild von Frauen wie Gisela Elsner oder Ingeborg Bachmann haben. Viele Autorinnen musste man erst mal von den männlichen Zuschreibungen „befreien“.

An vielen Beispielen beschreiben Sie, wie die Texte der Frauen von dem mehrheitlich männlichen Publikum abgewertet wurden. Und eher das Aussehen der Autorinnen „gelesen“ wurde als ihre Texte. Waren die Männer alle Chauvis oder spiegelt das das Geschlechterverhältnis dieser Zeit wider?
Seifert: Man kann die Gruppe 47 nicht unabhängig von der deutschen Gesellschaft der 50er Jahre betrachten. Wie reaktionär das Geschlechterbild war. Was Emanzipation anbelangt, war man zwischen den Weltkriegen ja schon mal viel weiter. Aber von rechts bis links waren sich alle Parteien einig, dass es zum Wiederaufbau und zur Wiederherstellung der Ordnung vonnöten war, die vermeintlich naturgegebene Geschlechterordnung wiederherzustellen. Das spiegelt sich auch in der Gruppe 47 wider: Die Männer hatten etwas zu sagen, die Frauen eben nicht. Tatsächlich hat mich das Ausmaß, in dem die Frauen als Körper wahrgenommen wurden, erschreckt. Ihr Aussehen hat sich für die Männer komplett vor das Werk gestellt. Sie wurden größtenteils schlicht nicht als Konkurrenz ernst genommen. Dabei hatte sich die Gruppe 47 selbst ja als Avantgarde begriffen – die sich von den Reaktionären abwendet, nach vorne blickt, Neues schafft.

Nur wenige Frauen wurden in diesem Kreis zugelassen. Insgesamt kamen auf etwa 200 Autoren weniger als 30 Autorinnen. Warum haben sich die Frauen eigentlich nicht solidarischer verhalten?
Seifert: Ja, das fragt man sich heute. Aber wie die Männer die Frauen sahen, hat sich in vielen Fällen erst in späteren Texten offenbart. In dieser Härte war das vermutlich damals für manche noch gar nicht so zu spüren. Für andere hingegen schon. Die Frage nach der Solidarität kommt meiner Meinung nach aus einem heutigen, feministischen Verständnis. Wir sprechen hier von der Zeit vor 68, vor der Frauenbewegung der 70er Jahre. Damals hätte ein Bündnis der Autorinnen diese sofort in die Emanzen-Ecke gerückt. In den Verdacht durfte man gar nicht kommen, wenn man Anerkennung von den Herren wollte. Damals haben die Frauen das Fehlverhalten der Männer persönlich genommen, nur auf sich bezogen, uns ist heute klar, dass all das strukturell bedingt ist.

Was hat Sie bei den Recherchen am meisten überrascht?
Seifert: Das Ausmaß des offenen Sexismus. Meine Ausgangsfrage war ja eigentlich: Wer war noch dabei? Mein Wunsch war, die Autorinnen wieder ans Licht zu holen. Weil ich sicher war, dass sie zu Unrecht aus der Geschichte der Gruppe 47 verdrängt wurden. Was ich dann alles gefunden habe, hat mich ziemlich schockiert.

Man kennt natürlich Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger. Und Gisela Elsner vor allem aus dem Film „Die Unberührbare“. Das Buch macht Lust, sich Autorinnen wie Helga M. Novak oder Griseldis Fleming zu nähern. Haben Sie denn auch Autorinnen für sich entdeckt?
Seifert: Ich habe vor allem die Lyrikerinnen für mich entdeckt. Ich hatte mich zuvor – auch beruflich – immer viel mehr für Prosa interessiert. Das hat sich mit den Recherchen für dieses Buch geändert. Weil die Lyrikerinnen besonders spannend sind. Griseldis Fleming ist für mich da eine zentrale Figur. Nicht nur, weil ihre Lyrik eine große Intensität hat. Sie ist auch deshalb interessant, weil sie sich dezidiert dazu geäußert hat, wie sie die Gruppe 47 erlebt und was der Verriss mit ihr gemacht hat. Aber für mich persönlich waren auch Ilse Schneider-Lengyel, chronologisch die erste Autorin der Gruppe, Helga M. Novak oder Elisabeth Borchers echte Entdeckungen.

Wie ist es denn heute? In den 90er Jahren klebte man ja gern das Etikett „literarisches Fräuleinwunder“ auf viele Bücher. Werden männliche und weibliche Autoren heute gleichermaßen wahrgenommen, besprochen und gelesen?
Seifert: Diese Überraschung, die bei dem Begriff „Fräuleinwunder“ mitschwang, dass junge, gut aussehende Frauen plötzlich preisgekrönte Romane schreiben konnten, haben wir mittlerweile überwunden. Dass Autorinnen im Moment viel Aufmerksamkeit bekommen, ist toll. Ich bin aber skeptisch, weil es in der Geschichte (auch des Feminismus) noch jedes Mal so war, dass, wann immer sich Frauen Räume erobert haben, sofort eine Gegenbewegung einsetzte. Deshalb bin ich ein bisschen vorsichtig, wenn es darum geht, was nachhaltig erreicht wurde.

Aber Frauen lesen doch mehr als Männer und vielfältiger.
Seifert: Ja, aber auch die meisten Frauen lesen Untersuchungen zufolge mehr Bücher von Männern. Man darf nicht unterschätzen, wie stark die Höherbewertung des Männlichen in der Kultur ist. In der Schule lernen die Kinder noch heute implizit, dass Literatur von Männern mehr Wert ist. Das setzt sich später im Leseverhalten fort. Ich würde mir wünschen, dass diese wiederentdeckten Autorinnen jetzt auch gelesen werden. Gerade in der Schule.

DK

Die Fragen stellte Anja Witzke.



Lesung und Gespräch: NICOLE SEIFERT im Lechner-Museum

Zwei Jahrzehnte lang prägte die Gruppe 47 den Literaturbetrieb – und damit die Kultur der Bundesrepublik. Ihr Ziel: die radikale Erneuerung der Literatur. Nahezu alle deutschsprachigen Autoren von Rang nahmen an einzelnen Treffen teil – von Heinrich Böll über Martin Walser bis zu Paul Celan. Günter Grass etwa las hier zum ersten Mal aus seiner „Blechtrommel“. Frauen blieben dagegen in der Minderheit. Natürlich kennt man Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann oder Gabriele Wohmann. Aber die anderen? Etwa 200 Schriftsteller lud Hans Werner Richter, Spiritus rector der Gruppe 47, zwischen 1947 und 1967 ein, aber nur weniger als 30 Schriftstellerinnen. Und die wurden in ihrer Arbeit auch noch ziemlich geringschätzig behandelt. Nicole Seifert hat sich in ihrem Buch „Einige Herren sagten etwas dazu“ mit der Rolle der Autorinnen in der Gruppe 47 beschäftigt und beschrieben, wie abschätzig Autoren und Kritiker über die Literatinnen urteilten und systematisch Karrieren vereitelten. Und nicht nur das: Auf Ilse Aichingers Bett wurde 1952 bei einem Treffen ein nackter Mann drapiert. Und Elisabeth Plessen musste sich fragen lassen: „Dich hat Hans Werner eingeladen? Hast du mit ihm geschlafen?“ 20 Jahre existierte die Gruppe 47, von ihrem ersten Treffen 1947 am Bannwaldsee im Allgäu bis zum letzten Treffen 1967 im Gasthof Pulvermühle in Oberfranken. Nicole Seifert stellt im Rahmen der Ingolstädter Literaturtage ein neues Kapitel der Gruppe 47 vor – die vergessenen Frauen.

aw



Nicole Seifert: Einige Herren sagten etwas dazu, Kiepenheuer&Witsch, 352 Seiten, 24 Euro.