Exklusiv-Interview
Grünen-Chef Nouripour über Deutschlands Energie-Engpass: „Söder ist der Problembär“

30.07.2022 | Stand 22.09.2023, 20:30 Uhr

Omid Nouripour bildet mit Ricarda Lang die Spitze der Grünen. Er will, dass mehr Rohstoffe in Deutschland gefördert werden. −F.: Nietfeld, dpa

Grünen-Chef Omid Nouripour fordert mehr Fokus auf die Abhängigkeiten von China und wirft der CSU vor, die größte Energielücke im Land verschuldet zu haben.





Nouripour hat vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen mit Russland eine stärkere Fokussierung auf China gefordert und beklagt, dass zu wenig unternommen worden sei, sich von dem Land zu lösen. „Nicht Russland, sondern China ist der größte systemische Rivale der Demokratien weltweit und die größte geostrategische Herausforderung für den Westen in diesem Jahrhundert“, sagte Nouripour im Interview mit den Zeitungen der Mediengruppe Bayern.

Hinsichtlich einer möglichen Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke möchte Nouripour zunächst die Stresstests abwarten. Die Schuld an Bayerns Energiengpass sieht er insbesondere bei einem CSUler: „Markus Söder ist der Problembär der Energieversorgung in Deutschland und hat in Bayern den Ausbau der Erneuerbaren stark ausgebremst“, so Nouripour.

Herr Nouripour, allen ist bewusst, wie abhängig wir von Russland sind. Dabei übersieht mancher: Die Abhängigkeit von China ist viel größer. Wie lange können wir uns die Ignoranz noch erlauben?
Omid Nouripour: Nicht Russland, sondern China ist der größte systemische Rivale der Demokratien weltweit und die größte geostrategische Herausforderung für den Westen in diesem Jahrhundert. Wir müssen deshalb einerseits alle Potenziale zur Kooperation ausschöpfen, denn ohne China werden wir zum Beispiel das Klima nicht retten können. Andererseits müssen wir jedoch Abhängigkeiten zügig reduzieren, ohne uns zu entkoppeln.

Wo müssen wir uns lösen?
Nouripour: Es gibt existenzielle Güter, die wir selbst werden herstellen müssen. 68 Prozent der Wirkstoffe für Pharmazie in Europa kommen direkt oder indirekt aus China. Das Problem ist seit Beginn der Pandemie bekannt. Und doch ist bisher nicht genug passiert, um diese Abhängigkeit abzubauen. Das ist brandgefährlich. Batterietechnik, Solar- und Windkraftanlagen, Halbleiter, Chipherstellung, Robotik – diese Bereiche sind neuralgisch für unsere Volkswirtschaft. Wir müssen in der EU die Rahmenbedingungen für Firmen in diesen Bereichen verbessern und damit Wertschöpfung und Resilienz gegen Krisen nach Europa holen.

Bei Russland ist das klare Ziel der Regierung: „null Abhängigkeit“. Warum nicht auch bei China?
Nouripour: In den USA wird das diskutiert, die Debatte ist aber nicht hilfreich und führt nirgendwohin. Dazu ist China schlicht zu tief in den globalen Produktionsketten verwoben. Das Ziel muss sein, dass wir ohne China stehen können, nicht eine komplette Entflechtung.

Aus China kommen Metalle und Seltene Erden. Hierzulande wird nicht mal richtig danach gesucht.
Nouripour: Es geht ja nicht darum, alles hier zu fördern, es braucht einen funktionierenden Weltmarkt. Abgesehen davon sind die Vorkommen Seltener Erden hierzulande meist eher gering.

Im Erzgebirge liegt eines der größten Lithium-Vorkommen Europas, das für Batterien gebraucht wird. Es gibt Vorkommen von Kobalt, und Seltener Erden wie Indium, Gallium, Lanthan, usw..
Nouripour: Wir werden eine Rohstoffstrategie brauchen, die uns auf eigene Beine stellt. Inklusive mehr Kreislaufwirtschaft, also mehr Wiederverwertung. Diese Strategie kann die Hebung eigener Vorkommen miteinschließen. Wenn dies ökonomisch und ökologisch zu rechtfertigen ist. Ich bin jedoch nicht für einen deutschen Alleingang, sondern für eine europäische Strategie. Europa muss sich unabhängig machen von Staaten, die aus machtpolitischen Gründen die Versorgung gefährden. Wenn dies mit eigenen Ressourcen erfolgen kann, umso besser.

Und Gas aus der deutschen Nordsee? Das wird nicht gefördert.
Nouripour: Sich jetzt wieder voll in die Nutzung fossiler Energieträger zu stürzen, wäre ein großer Fehler. Es geht kurzfristig darum, dass wir gut über die nächsten ein bis zwei Winter kommen, bis wir von Putin unabhängig werden. Das Gleiche gilt fürs Fracking. Relevante Fördermengen bekämen wir frühestens in fünf Jahren. Das hilft also nicht für die nächsten zwei Winter. Das ist eine weitere Scheindebatte neben der über die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke.

Wäre nicht eine Laufzeitverlängerung Ihren Anhängern ebenso vermittelbar wie Aufrüstung oder die längere Nutzung der Kohle?
Nouripour: Bei der Modernisierung der Bundeswehr, den Waffenlieferungen und bei der Kohle erklären wir schlüssig, warum wir dies tun müssen. Dass unsere Mitglieder wie auch Wählerinnen und Wähler das verstehen, erleben wir in Gesprächen und das zeigen auch die Umfragen. Unsere Ziele bleiben, unser Kompass ist intakt. Wir bauen die Erneuerbaren massiv aus, setzen auf Abrüstung und eine restriktive Rüstungsexportpolitik. Doch aktuell braucht es schnelle direkte Lieferungen von schweren Waffen an die Ukraine. Und dort, wo ein Ringtausch nicht wie geplant funktioniert, müssen wir schauen, ob nicht direkte Lieferungen aus den Beständen der Bundeswehr erfolgen können. Bei der Atomkraft ist die Lage völlig anders.

Wieso?
Nouripour: Weil eine Laufzeitverlängerung weder notwendig noch wirtschaftlich sinnvoll ist. Aktuell läuft ein zweiter, weitreichender Stresstest, um zu prüfen, ob es im Winter zu einem Stromengpass kommen könnte. Wenn es Nachbesserungsbedarf gibt, werden wir anhand der Fakten über weitere Maßnahmen sprechen. Der Stresstest ist übrigens vor allem nötig, weil die Lage in Bayern so angespannt ist. Markus Söder ist der Problembär der Energieversorgung in Deutschland und hat in Bayern den Ausbau der Erneuerbaren stark ausgebremst.

In 2020 wurden in Bayern gerade einmal drei neue Windräder genehmigt. So wird das nichts mit der Energiewende. Gleichzeitig wird die Atomdebatte von denjenigen forciert, die schon immer gegen den Atomausstieg und damit gegen die Befriedung eines jahrzehntelangen Streits waren.

Aber wenn es konkret wird, duckt sich die CSU bei der Endlagerfrage weg, will aber gleichzeitig mit dem Weiterbetrieb der AKWs neuen Atommüll in Kauf nehmen. Noch ein Grund, warum es keine Laufzeitverlängerung geben darf. Übrigens ist es doch gerade die Union, die uns in diese fatale Abhängigkeit von Putin geführt hat. Und CDU-Chef Friedrich Merz träumt sich immer noch an der Realität vorbei: Er spricht über die Kernfusion als Energiequelle. Doch die steht laut der EU-Kommission nicht vor 2060 zur Verfügung. Ich wünsche mir gerade in Krisenzeiten, dass die Opposition zum Wohle Deutschlands über ihren Schatten springt und mehr Ernsthaftigkeit an den Tag legt.

In Bayern weht der Wind leider nicht so beständig wie im Norden.
Nouripour: Mag sein, aber dann hätte die bayerische Regierung den Ausbau der Stromtrassen forcieren müssen, um den Anschluss an die Windproduzenten zu bekommen und die Versorgung der Bayern sicherzustellen. Stattdessen hat Söder über Jahre den Trassenausbau durch Bürokratie blockiert, das kommt erst jetzt auch auf Grund von Druck aus der Wirtschaft in die Gänge. Die CSU hat die größte Lücke bei der Energieversorgung in Deutschland zu verantworten.

Ab Januar soll Hartz IV durch ein Bürgergeld ersetzt werden. Sollte bei der Berechnung die absehbare Entwicklung der Inflationsrate eine Rolle spielen?
Nouripour: Beim Bürgergeld eine Inflationsprognose einzubeziehen, kann sinnvoll sein, um den Regelsatz inflationsfest zu machen. Wir werden uns auch darüber hinaus zusammensetzen und über ein Gesamtpaket beugen müssen. Und zwar dürfen wir nicht mit der Gießkanne entlasten, sondern wir müssen gezielt und sozial gestaffelt helfen. Zu diesem Paket gehören auch akute Maßnahmen wie ein Moratorium für Gas- und Stromsperren, das zunächst für diesen Winter gelten muss.

Um wie viel sollten die Sätze beim Bürgergeld mindestens steigen?
Nouripour: Der Vorschlag von Arbeitsminister Hubertus Heil von zusätzlich circa 50 Euro geht in die richtige Richtung.

Beim Bürgergeld droht der Konflikt mit der FDP. Ebenso bei Corona. Welche Regeln braucht es?
Nouripour: Seit meiner Corona-Erkrankung vor drei Monaten leide ich mehrmals am Tag an Schwindelgefühlen. Long Covid ist ein Problem und wir tun gut daran, Corona deshalb nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Die Herbstwelle ist absehbar und es braucht eine gesetzliche Anschlussregelung. Hoffentlich kommt es nicht dazu, aber es muss für die Länder im Notfall möglich sein, auf das Infektionsgeschehen mit Maskenpflicht, Abstandsregelungen und weiteren Maßnahmen reagieren zu können. Sonst haben wir nicht nur eine Krise des Gesundheitssystems, sondern auch spürbare Personalausfälle in der Wirtschaft und in der Verwaltung.

Sind Sie für Maskenpflicht bundesweit oder nur in Hotspots?
Nouripour: Das hängt von der Art der Welle ab. Ich plädiere dafür, dass beides im Notfall möglich ist. Wenn sich die Lage zuspitzt, muss man auch bundesweit reagieren können.

Interview: Thomas Vitzthum