Nachdenklich machende Geschichtsstunde
Lesung im Kunstverein Spectrum zum 125. Geburtstag von Erich Kästner – starke Satire und Pointen

02.02.2024 | Stand 02.02.2024, 13:13 Uhr

Gedichtrezitator Heinz-Peter Lehmann und Harfinist Wolfgang Kerscher führen die Besucher auf eine Zeitreise mit Erich Kästner in die Weimarer Republik. Foto: Spectrum

Voll war es in der Kulturscheune in Leerstetten. Für die zuletzt Ankommenden mussten zusätzliche Stuhlreihen aufgestellt werden. Ein spannender Gedichte-Abend mit genialer Harfenuntermalung ließ jeden bis zur letzten Minute gebannt auf seinem Platz ausharren.

Heinz-Peter Lehmann, Rezitator der Gedichte für Erwachsene von Erich Kästner, erläuterte zu Beginn des Abends die politische und gesellschaftliche Situation der Weimarer Republik. Dies sei wichtig, um Kästners Gedichte zu verstehen. Der 1899 geborene Kästner hielt der Gesellschaft in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg von 1918 bis zur Machtergreifung der Nazis 1933 schonungslos den Spiegel vor.

Weimarer Republik Anlass für Kästners Mahnungen

Zehn Millionen Kriegstote, unzählige Kriegsinvaliden, Massenobdachlosigkeit, zehn Tausende Hungertote prägten das Bild Deutschlands. Die horrenden Reparationsleistungen, die Deutschland auferlegt wurden, machten den Staat nahezu handlungsunfähig. Die Hyperinflation tat ein Übriges. Heute unvorstellbar – ein Kilo Kartoffeln kostete in Berlin vor der Währungsreform 1923 90 Milliarden, ein Dollar entsprach 4,2 Billionen Reichsmark. Es folgte die Weltwirtschaftskrise 1929 – Massenarbeitslosigkeit und Hungersnot. In 14 Jahren Weimarer Republik gab es 16 Reichsre- gierungen und schließlich nur noch ein Regieren per Notverordnungen. Die junge Demokratie war gescheitert – sie war eine „Demokratie mit zu wenig Demokraten.“ In dieser Zeit warnte der junge Kästner – geprägt von schlimmen Erfahrungen aus dem ersten Weltkrieg – vergeblich vor der sich abzeichnenden Gefahr eines neuen Krieges. Eine wahrhaft „dunkle Zeit“.

Wolfgang Kerscher leitete mit einfühlsamen Akkorden auf seiner keltischen Harfe zu den ersten Gedichten des Abends über – sie standen unter der Überschrift „Krieg/Warnung/Vorsehung“. Düstere Zeilen im Gedicht „Stimmen aus dem Massengrab“ ließen Gänsehaut aufkommen, wenn Kästner im Jahr 1928 die Toten sagen lässt: „Da liegen wir den toten Mund voll Dreck. (...) Wir starben. Doch wir starben ohne Zweck. Ihr lasst Euch morgen, wie wir gestern, schlachten.“

Kästners Gedichte passen auch auf die heutige Zeit

In „Wenn wir den Krieg gewonnen hätten…“ von 1930 heißt es „Die Pfarrer trügen Epauletten und Gott wär deutscher General.“ Und die letzten Zeilen: ...wenn wir den Krieg gewonnen hätten – zum Glück gewannen wir ihn nicht!“ machen nur zu deutlich, warum Kästners Bücher unter den ersten waren, die die Nazis 1933 öffentlich verbrannten.

Nach der ersten Pause wurden die Themen deutlich weniger düster. Es ging zunächst um Gesellschaftskritisches. Kästner zeigte sein Talent als Satiriker wenn er in „Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag“ zum Schluss kommt: „Du hattest sie (die Menschen) vergeblich lieb. Du starbst umsonst. Und alles blieb beim Alten.“ Im Gedicht „Die Entwicklung der Menschheit“ schrieb er dieser ins Stammbuch, sie seien trotz allen Fortschritts „noch immer die alten Affen.“

Erschreckend aktuell die Zeilen in „Große Zeiten“: „Wer warnen will, den straft man mit Verachtung. Die Dummheit wurde zur Epidemie. So groß wie heute war die Zeit noch nie. Ein Volk versinkt in geistiger Umnachtung.“ Als emotionsstarker Schriftsteller wusste Kästner einfühlsam das unterschiedliche Gefühlsleben von Frau und Mann in wunderbare Verse zu formen. In „Kleines Solo“ rührt er das Publikum:. „Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine. Brauchtest Liebe. Findest keine. Träumst vom Glück. Und lebst im Leid. Einsam bist Du sehr alleine – und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.“ Zeitlos klingt die letzte Strophe von „Ein Mann gibt Auskunft“, in der dieser auf das Ende einer Beziehung blickt: „Das Jahr war schön und wird nicht wiederkehren. Und wer kommt nun? Leb wohl! Ich habe Angst.“

Nach der zweiten Pause wurde es humorvoll und frivol-erotisch. Kästner als augenzwinkernder Satiriker sorgte für Spaß im Raum. Kaum zu glauben nach den beiden vorangegangenen Teilen! Er lässt einen geträumten Hund sagen: „ der Mensch ist es nicht wert, dass man gesellschaftlich mit ihm verkehrt.“ Er arbeitet sich sarkastisch und äußerst pointiert an den „Sogenannte Klassefrauen“ ab und kommt zur Erkenntnis: „Denn sie fliegen wie mit Engelsflügeln immer auf den ersten besten Mist. (...) Und sie sind auf keine Art zu zügeln, wenn sie hören, dass was Mode ist.“ Vergnüglich und überraschend das Ende des Gedichts: „Präludium auf Zimmer 28“, in dem nach einer Liebesnacht der Mann seine Partnerin fragt „Pardon, wie heißt du eigentlich?“

Es ist Lehmann gelungen, aus den über 500 Gedichten Erich Kästners die „richtigen“ 30 auszuwählen und ein spannendes, abwechslungsreiches und unterhaltsames Programm zusammenzustellen. Die genialen Harfenharmonien Wolfgang Kerschers zwischen den Gedichten sorgten dafür, dass die Besucher jedes einzelne auf sich wirken lassen konnte und machten so den Abend zu einem einmaligen Erlebnis. Treffend brachte es eine Besucherin (eine Lehrerin aus Weißenburg) auf den Punkt: „Das war die schönste Geschichts- und Deutschstunde, die ich erlebt habe.“

HK