20 Jahre beim „Straßenkreuzer“
Chefredakteurin Ilse Weiß „will kein Mitleidsblatt“

03.09.2023 | Stand 12.09.2023, 22:19 Uhr

Von Jutta Olschewski

Es wird wenige Menschen geben, die sich im sozialen Nürnberg so gut auskennen wie sie: Ilse Weiß. Die Chefredakteurin der Sozialzeitung „Straßenkreuzer“ macht den Job seit über 20 Jahren. Sie hat hundert Ideen, Zuversicht und viel Gerechtigkeitssinn.

Das war für die Journalistin Ilse Weiß ein echtes Highlight: Vor kurzem hat sie für eine Reportage ein Pflegeheim in ihrer Stadt entdeckt, das Menschen aufnimmt, die arm sind, alkoholabhängig, psychisch krank oder wohnungslos waren. „Dass ich davon noch nichts gehört hatte, war schon erstaunlich“, sagt die 62-Jährige. Sie hat über das Heim eine Titelstory geschrieben, hat Bewohner und ihre Geschichten geschildert; professionell, wie sie es auf der Deutschen Journalistenschule in München vor über 30 Jahren gelernt hat.

Qualität ist Ilse Weiß wichtig. „Ich will kein Mitleidsblatt, ich will kein langweiliges, tränenreiches Blatt, in dem man im Elend steckenbleibt“, sagt sie. Konstruktiv will Ilse Weiß sein. Für sie heißt das, die Fähigkeiten und das Vermögen „gerade von Menschen zu zeigen, die sonst so oft in Schubladen gesteckt werden“.

Mehr Selbstbewusstsein schaffen bei den Verkäufern

Als sie begann, hießen solche Straßenzeitungen noch Obdachlosen-Blätter. „Wir machen etwas für die armen Hascherl“, sei damals die Devise gewesen, erzählt Weiß. Heute soll der monatlich erscheinende „Straßenkreuzer“ qualitativ hochwertige Geschichten bringen und mehr Selbstbewusstsein schaffen bei den Verkäuferinnen und Verkäufern in der Stadt und im Umland, die wenig Geld haben. „Die sind immer im Fokus“, sagt Weiß im Konferenzraum des „Straßenkreuzers“. An der Wand aufgereiht hängen in bunten Farben die Ausgaben der bisherigen 30 Jahrgänge des Sozialmagazins.

Ihre eigene Familiengeschichte habe sie gelehrt, „wie das ist, wenn du nichts hast“. Sie entstamme „einem schlichten Milieu“, schildert die gebürtige Herzogenauracherin. Die Mutter war Tochter einer Bauernfamilie, ihr Vater kam aus einer Arbeiterfamilie. „Sie hatten immer ein kleines Leben.“ Und die Eltern waren im katholischen Herzogenaurach ebenfalls „erzkatholisch“. Der Vater ging in die Fabrik zu Schaeffler. Die Mutter war Buchhalterin in einer kleinen Schuhfabrik, oft wusch sie nachts die Wäsche im Keller. Ilse und ihre drei Geschwister waren häufig sich selbst überlassen, „aber nicht im Sinne von lieblos – sie konnten nicht anders“. Die Mutter sei „eine total empathische Frau“ gewesen. Ihre Lebenseinstellung habe sie geprägt, „immer auf die anderen zu schauen“.

Ilse Weiß engagiert sich also. Sie ist bei der Gründung eines Jugendzentrums aktiv, leitet in der katholischen Jugendarbeit eine eigene Gruppe. Gern habe sie Verantwortung übernommen, sagt sie. Und sie habe den Mund aufgemacht und mitentschieden: „Ich habe mir immer eine Meinung gebildet, die wollte ich auch loswerden.“

Mit 18 Jahren tritt sie aus der katholischen Kirche aus, „als ich mich total aufgeregt habe über den Papst und seine Einmischung in eine liberale Abtreibungspolitik. Das war für mich empörend“. Es ist Ende der 1970er, Anfang der 1980er – sowieso eine Zeit, in der junge Menschen protestierten, gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, gegen den Nato-Doppelbeschluss, gegen Alt-Nazis. Ilse Weiß reist damals viel durch die Welt, „also ich war weg und nach drei Monaten wieder da“. Sie studiert in Nürnberg Sozialwissenschaften. Weil sie immer schon gerne geschrieben hat, bewirbt sie sich bei der Deutschen Journalisten-Schule.

Seit sie beim „Straßenkreuzer“ ist, gehören Themen wie die Kinder von Häftlingen, Hunger im reichen Bayern, Alkoholabhängigkeit oder Wohnungsnot zum täglichen Geschäft der Redakteurin. „Es gibt und gab Geschichten, die haben mich schon verfolgt“, gibt sie zu. Sie denkt an Klaus, der fast zehn Jahre auf der Straße gewohnt hat. „Im Winter, wenn es früh eisig kalt war, habe ich mir meinen Kaffee gemacht, und da dachte ich oft, wie es dem Klaus jetzt geht.“ Wenn sie ihm das sagte, war die Antwort: „Ach, ihr seid doch alle Weicheier.“ Sie wisse heute, für Klaus sei das ein Schutzmechanismus gewesen. „Sollte er sich hinsetzen und weinen über sein Leben?“ Klaus hat längst eine eigene Wohnung, aber immer noch seinen Rucksack – für alle Fälle. Wenn er heute in die „Straßenkreuzer“-Räume kommt, sagt er: „Ihr habt mich zum größten Spießer gemacht.“

Auch Rätsel und Rezeptesind wichtig

Weiß erinnert sich an ihren ersten Auftritt als Redaktionsleiterin in der Wärmestube vor den Verkäufern der Zeitung und anderen Klienten. Sie wünsche sich, dass diese das Magazin als ihr eigenes ansehen, sagte sie ihnen und fragte sie nach Wünschen für das nächste Heft. „Da kamen dann: Rätsel und Rezepte.“ Für Ilse Weiß war das ein Moment der Erkenntnis: Der „Straßenkreuzer“ muss eine richtige Zeitschrift sein, wie sie etwa auch in einem Wartezimmer liegen könnte, gesellschaftlich wichtig, aber auch mit Rätsel und Rezept.

Ilse Weiß hat noch viele gewichtige Ideen umgesetzt: Die Nürnberger gründeten eine „Straßenkreuzer-Uni“, luden namhafte Referenten ein. Die damalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger kam und musste sich der Frage eines Hörers stellen: „Warum brauchen wir überhaupt Gesetze?“ Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm war ebenfalls zu Gast. Auch die Initiative für Housing First ist von Ilse Weiß ausgegangen, ein Projekt für „bedingungsloses Wohnen“. Ihr liebstes Kind ist die Schreibwerkstatt, deren Autoren in jedem Heft mehrere Seiten füllen.

Kürzlich hat Ilse Weiß die Bürgermedaille der Stadt Nürnberg erhalten. Sie sei ein Gewinn für die soziale Landschaft, hieß es in der Laudatio. „Es ist ein schöner Satz, da habe ich mich gefreut“, sagt sie. Ohne den Verein Straßenkreuzer sei ihr Tun nicht möglich gewesen, sagt sie. „Aber ich glaube schon, dass meine Beharrlichkeit, an meine Ideen zu glauben, immer wieder in einem Gewinn mündet.“

epd