Von der Größe der kleinen Dinge
Sieglinde Bottesch stellt im Eichstätter Jurahaus-Museum aus

19.04.2024 | Stand 19.04.2024, 7:00 Uhr

Besonders reizvoll fügen sich die vier Objekte „Frucht“, „Kaprizen“, „Echo“ und „Gleichnisse“ (v. l.) an die Fachwerkwand des Museums. Fotos: Luff

„Das Große im Kleinen. Objekte und Zeichnungen“ nennt die Ingolstädter Malerin, Grafikerin und Objektkünstlerin Sieglinde Bottesch ihre 23 kleinformatigen Zeichnungen und ihre elf Objekte, die im Museum „Das Jurahaus“ noch bis zum 2. Juni zu sehen sind.

Die Bilder und Installationen passen vorzüglich in das kleine, liebevoll restaurierte Jurahaus in der Rot-Kreuz-Gasse mit seinen windschiefen Räumen und niedrigen Decken. Denn die eigentliche Entdeckung, die man beim Rundgang durch die Ausstellung machen kann, ist die Dimension des Mikrokosmos der kleinen Dinge und Lebewesen in der Natur, an denen man im Alltag achtlos vorübergeht: Ein kleiner Stein, ein Insektenauge, Jurakalk oder eine Frucht – sie alle verfügen per se über eine innere Schönheit, die für den Betrachter einzigartig sein kann.

Diese Schönheit hat die Künstlerin mit Tusche und in Wasserfarben, als Collage oder in Mischtechnik auf Papier gebannt oder in eigentümliche Objekte aus Gipsbinden und Schnüren, Hanf, Sisal und Chinapapier mit Wachs modelliert. Voraus ging diesem Schaffensprozess stets ein Dialog mit den stummen Dingen, die doch so viel zu erzählen haben. Bei dieser Kommunikation mit dem Betrachter kommt es auf viele Faktoren an: auf das Licht und den flüchtigen Moment, auf die Form und das Wesen, aber auch auf die innere Verfassung, in der man sich gerade befindet, wenn man die vergänglichen Dinge der Natur sieht. Für Bottesch ist es so, als ob sie sich diese Dinge erobert, indem sie sie verinnerlicht. Die Dinge erzählen ihr dann auch etwas über sie selbst als Person, über ihren Körper und über ihre Seele.

Die Beziehung der Künstlerin zu diesen Dingen schlug sich in einem von Anfang an offenen Schaffensprozess nieder. Eine Idee knüpft an die andere, am Ende ergibt sich eine Zeichnung oder ein Objekt, ohne dass vorher ein konkretes Ziel festgelegt wurde. Genau dadurch können die Dinge eine ungeahnte Größe entfalten, auch wenn sie noch so winzig sind. Sieglinde Bottesch sieht sich hier im Gefolge von Dichtern wie Rainer Maria Rilke oder dem französischen Nobelpreisträger Saint-John Perse. Der Symbolist Rilke dichtete um die Jahrhundertwende und beschwor immer wieder die Faszination der stummen, vieldeutigen Dinge in der Natur herauf, die ohne Worte zum Menschen sprechen, ihm Rätsel aufgeben und zu immer wieder neuen Deutungen herausfordern.

Der Lyriker Saint-John Perse, mit bürgerlichem Namen Alexis Leger, schrieb in mehreren Gedichten über das Rendez-vous mit einem Insektenauge, mit dessen Facetten er sich ein Fest bereiten wollte. Sieglinde Bottesch arbeitet seit zehn Jahren diese Faszination der Dinge auf Papier und mit Objekten heraus. Dabei ist die Linie für sie das bedeutsamste Ausdrucksmittel, obwohl sie so abstrakt ist. Sie begrenzt nämlich die Konturen und Formen, und dies auch beim Objekt. Ihre Zeichnungen tragen Titel wie „Fundstück“ und „Rhythmus“, „Aufbruch“ und „Vergänglichkeit“, „Reife“ und „Häutung“. Sie zeigen Insektenkörper und Vögel, Dinge in Interaktion und Gegenstände im Wandel oder als leere Hülsen. Ihre Objekte thematisieren das Werden und die Vergänglichkeit, natürliche Prozesse, die allesamt von der Zeit geprägt sind.

Denn Zeit hinterlässt in der Natur unweigerlich ihre Spuren und die Künstlerin fängt die Augenblicke pulsierenden Lebens ebenso ein wie die Starre verdorrter Hüllen, in denen einst Früchte steckten. Die Entschlüsselung der Bedeutung dieser Objekte und Zeichnungen ist ein ungemein spannender und reizvoller Prozess. So ergibt sich beim Gang durch die Ausstellung ein vielfältiges Panoptikum, das immer wieder neue Interpretationen zulässt. Und aus jedem Kunstwerk spricht die Ehrfurcht der Künstlerin vor den kleinen Dingen der Schöpfung.

EK



Die Vernissage zur Ausstellung findet am Freitag, 19. April, um 18 Uhr im Museum „Das Jurahaus“ statt. Die Ausstellung ist zu den Öffnungszeiten des Museums zu sehen, mittwochs und donnerstags jeweils 15 bis 18 Uhr, freitags und samstags jeweils 14 bis 17 Uhr und sonntags 14 bis 16 Uhr.