Reise-Reportage
Unterwegs im Zwergenstaat Andorra: Kleines Land ganz hoch

20.10.2023 | Stand 20.10.2023, 19:00 Uhr

Vom Aussichtspunkt „Mirador Roc del Quer“ in der Gemeinde Canillo hat man einen sensationellen Ausblick über Andorra.  − Fotos: Max Klapper

Steuerparadies, einer der sechs europäischen Zwergstaaten: Ansonsten ist Andorra nicht weiter bekannt. Das Pyrenäenland steckt irgendwo zwischen Tradition und Moderne. Doch in den letzten Jahren hat es sich zu einer neuen Tourismus-Hochburg entwickelt.

Es ist das Unbekannte, das Nicht-Wissen, das völlig Neu-Kennenlernen. Irgendwo zwischen Spanien und Frankreich liegt es, irgendwo hinter den Dinosauriern der Pyrenäen, zwischen sieben Bergen und mit 80 Seen: Andorra. Ein Land, in dem Kinder kostenlos Bus fahren, die Schulen gebührenfrei sind, in der die Hauptunterrichtssprache wählbar ist. Ein Land, wo kaum einer dem Fürsten Abgaben zahlen muss, wo die sauberen Straßen durch besiedelte Täler führen, wo dicht bewaldete Berghänge sich mit steilen bunten Blumenwiesen abwechseln.

Der größte der sechs Mini-Staaten in Europa ist den meisten am ehesten noch von Buchtiteln aus der Schulzeit bekannt. Doch das etwa 83000 Einwohner starke Land hat kaum mehr etwas mit Max Frischs gesellschaftskritischem Drama zu tun. In sieben Gemeinden ist Andorra aufgeteilt, verbunden durch 269 Kilometer Straße, nur etwas mehr als die Strecke von Passau nach Regensburg und wieder zurück. 71 Kilometer davon sind nicht asphaltiert.

Über eine dieser Straßen, wenige Minuten mit dem Bus von der Hauptstadt Andorra la Vella entfernt, erreicht man das Gletschertal Vall del Madriu-Perafita-Claror. Ein UNESCO-Weltkulturerbe. Samantha Delgado Sáez wartet am Eingang des Tals mit zwei ihrer Esel. Da die Naturpark-Führerin aus den chilenischen Anden stammt, hat sie bei sommerlichem Dauerregen richtig gute Laune. „Schockverliebt“ sei sie in Andorra gewesen. Gekommen ist sie wegen der Skipisten. „Ich mag Andorra, weil mir hier die Berge sowohl im Winter als auch im Sommer gut gefallen“, sagt sie bei der Führung. „Beim Wandern und Klettern genieße ich es, in der Berglandschaft mit ihrer intakten alpinen Flora und Fauna zu sein.“

Zwei Drittel der Einwohner sind Ausländer

Seinen tiefsten Punkt hat Andorra am Grenzübergang nach Spanien auf rund 800 Metern. Ab da geht es immer bergauf bis zum Coma Pedrosa. Mit 2944 Metern ist dessen Gipfel Alt de Coma Pedrosa das Dach des Zwergstaats. 65 Mal geht es in Andorra über die 2000-Meter-Grenze.

Rund zwei Drittel der Einwohner haben nicht die andorranische Staatsbürgerschaft. Etwa 300 Menschen aus Deutschland hat es in das Pyrenäen-Land verschlagen, einer davon ist Heiko Kirchner(51). Hörbar gebürtig aus Zwickau (Sachsen) lebt der gelernte Koch, Bierbrauer und Busreiseleiter seit 23 Jahren in Andorra. Mit seinem Geschäftspartner, dem Imker Mathiu Garaud (48), hat er ungewöhnliche Kreationen entwickelt: Weine, Liköre und Biere aus Honig. Auch Kiefernzapfen, Äpfel oder Holunderbeeren hat er mit Honig gemischt. Garaud besitzt 120 Bienenstöcke, verteilt in ganz Andorra auf bis zu 2100 Metern Höhe. „Den Kiefernzapfen-Met hat sich das Hermitage-Hotel in einem Exklusiv-Vertrag gesichert“, sagt Kirchner. Nur für die Reisegruppe hat er noch ein Fläschchen parat. Der leicht harzige Geschmack kommt bei der Verkostung deutlich heraus. „Die Zapfen müssen bei der Ernte noch grün sein. Das Harz tritt dann aus, wenn die Zapfen aufgehen und das gibt den Geschmack“, sagt Kirchner. Bis zu 40 Prozent Honig sind laut den beiden in den Weinen enthalten. Mit wohlig warm gefüllten Mägen geht es weiter.

Dutyfree-Paradies mit billigen Benzin-Preisen

„Andorra ist das Land mit der höchsten Lebenserwartung Europas. Dafür sorgen saubere Bergluft, klares Wasser, Käse und Fleisch von den kleinen, braunen Pyrenäen-Kühen, die auf blumenübersäten Almen weiden, und viel Sport. Unsere günstigen Zigaretten und Spirituosen (etwa ein Drittel der Preise wie in Deutschland) konsumieren wir ja nicht selbst, sondern verkaufen sie an die Touristen, die aus Frankreich oder Spanien über die Berge kommen. Wir sind ein Dutyfree-Paradies, und das hört bei Kosmetika und Parfüms nicht auf. Der Liter Benzin kostet bei uns nur 1,30 Euro“, sagt Erika Wellmer (58). Eigentlich heißt sie Friederike, aber spanische, katalanische oder französische Zungen tun sich wohl mit der Aussprache schwer. Auch nach Jahrzehnten hört man noch immer, dass sie aus Westfalen stammt. Seit vielen Jahren führt sich Wandergruppen aus aller Welt durch ihre kleine Wahlheimat.

Von Bergbauern- zum Tourismusland

Als Reiseleiterin wird man zwar nicht reich, aber dadurch zahlt sie in Andorra auch keine Steuern. Übrigens: der Spitzensteuersatz liegt in Andorra bei zehn Prozent. Einziger Haken: Für einen offiziellen Wohnsitz in der Steueroase muss man schon nachweisen können, mindestens 183 Tage pro Jahr tatsächlich im Zwergstaat zu sein. Die Polizei, sagt Erika, klingelt schon mal höflich an der Tür zur Kontrolle und lässt sich Einkaufsbelege oder Tankquittungen zeigen.

Keine hundert Jahre ist es her, dass außer einiger weniger Bergbauern niemand in Andorra lebte. Erst als die Spanier, vor allem aus Barcelona, mehr Energie brauchten, kam der Wohlstand in den Pyrenäenstaat. Der damalige Deal: Barcelona darf Stauseen errichten, die Energie daraus für 70 Jahre nutzen und dafür werden in Andorra Straßen gebaut. Mit den Straßen kamen die Touristen und mit den Touristen das Geld. Rund neun Millionen Besucher hat das kleine Land pro Jahr. 52000 Hotelbetten stehen ihnen zur Verfügung. Die meisten Besucher kommen im Winter aus Barcelona zum Skifahren, erzählt Erika Wellmer. Tendenz steigend.

Andorra ist das einzige Land der Welt, indem zwei ausländische Amtsträger gemeinsam die Funktion des Staatsoberhauptes innehaben: der französische Staatspräsident und der Bischof von Urgell regieren in einer symbolischen Doppelherrschaft als Kofürsten. Es ist nicht in der EU, aber im Euro-Raum, mit eigenen Münzen – und die „sind heiß begehrt“, sagt Wellmer.


INFORMATIONEN

Das Land Andorra ist das größte der europäischen Zwergstaaten und liegt mitten in den Pyrenäen. Nur wenige Meter von den dicht bebauten Hauptstraßen entfernt erstrecken sich unbebaute Berghänge, die zu Wanderungen in der Natur einladen. In der Gemeinde Escaldes-Engordany befindet sich das größte Thermalbadzentrum Südeuropas. International bekannt ist Andorra als regelmäßige Station der Tour de France oder des Ski-Weltcups.

ANREISEN
Andorra ist sowohl aus Frankreich als auch aus Spanien über lediglich eine Straße zu erreichen. Von Spanien aus bietet sich eine Anreise per Flug nach Barcelona an, gefolgt von einer rund dreistündigen Bustour. Der Grenzübergang liegt auf etwa 800 Metern über dem Meeresspiegel und ist damit der tiefste Punkt des Landes. In Frankreich ist die nächstgelegene Stadt Toulouse. Eine Zugverbindung nach Andorra gibt es nicht.

ÜBERNACHTEN
Zahlreiche Hotels laden in den sieben Gemeinden Andorras zum Übernachten ein.

www.visitandorra.com


Redakteur Max Klapper reiste auf Einladung von Wikinger Reisen nach Andorra und recherchierte vor Ort.