Jetzt in Rohrbach
Nach Flucht aus Ukraine: „Ich will einfach nur mein Leben zurück“

Bei den Rohrbachern Alexandra und Holger Tenschert wohnen acht Flüchtlinge aus der Ukraine

28.07.2022 | Stand 22.09.2023, 20:36 Uhr
Linda Rosenberger

Harmonisches Beisammensein in Zeiten der Krise: Holger und Alexandra Tenschert (Mitte) haben acht ukrainische Flüchtlinge in ihrer fünfköpfigen Familie aufgenommen. Das Leid in der Kriegsregion berührt sie alle zutiefst. Foto: Rosenberger

Sie sind an einem Abend nichtsahnend ins Bett gegangen und am nächsten Tag in einer anderen Welt aufgewacht: Für Olena Kovalenko, Anna Chycheta und ihre Landsleute änderte sich Ende Februar alles, als Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine startete.



„Meine Mutter rief mich um sechs Uhr morgens an. Ich konnte nicht glauben, dass stimmte, was sie mir erzählte. Aber als ich die Nachrichten gesehen habe, habe ich realisiert, dass es tatsächlich wahr ist“, erinnert sich Olena Kovalenko. Dass sie keinen Moment weiter in ihrer ukrainischen Heimat bleiben könne – vor allem wegen ihrer zwei- und siebenjährigen Kinder – war ihr schnell klar. „Vom ersten Tag an wusste ich, dass ich meine Kinder an einen sicheren Ort bringen musste.“ Inzwischen konnten sie in Rohrbach Unterschlupf finden, wo sie Alexandra und Holger Tenschert bei sich aufnahmen.

Ehepaar bietet acht Flüchtlingen ein Zuhause

„Wir haben uns Anfang April 2022 dazu entschieden, unser altes Wohnhaus als Unterkunft für ukrainische Flüchtlinge anzubieten“, erzählen die beiden Rohrbacher. „Wir waren verzweifelt über solches Leid in Europa und über unsere eigene Hilflosigkeit“, so das Ehepaar weiter. Mittlerweile geben die Tenscherts insgesamt acht Ukrainern ein neues Zuhause in Rohrbach. Neben Kovalenko und ihrem Nachwuchs sind unter anderem auch deren Tante Anna Chycheta mit ihren beiden Kindern sowie ihre Cousine Oleksandra dorthin geflohen.

Sie alle stammen aus Odessa und der Umgebung der ukrainischen Hafenstadt, wo sie sich ein gutes Leben aufgebaut hatten. Entsprechend schwierig sei es gewesen, das alles aufzugeben, erzählt Anna Chycheta, aber die Sicherheit ihrer Kinder habe an erster Stelle gestanden.

Ihre weiteren Familienmitglieder mussten sie zurück in der Ukraine lassen. In Deutschland fühlen sie sich sicher und wohl – und konnten sogar das Leben der Familie Tenschert bereichern. „Unsere Kinder waren gleich von der Idee begeistert, ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen – vor allem als sie gehört haben, dass auch Kinder in ihrem Alter dabei sind“, sagt Alexandra Tenschert. Tatsächlich verstehen sich die Kleinen blendend und spielen sehr gerne miteinander, „obwohl sie kein Wort verstehen, was der andere sagt“. Die Erwachsenen sprechen derzeit noch Englisch miteinander oder zur Not einfach mit Händen und Füßen. Die Ukrainer sind fleißig dabei, Deutsch zu lernen. Olena Kovalenko hat beispielsweise viermal die Woche Unterricht und hofft, bald ihr erstes Zertifikat für das Sprachniveau A1 zu erhalten.

Auch weiter verläuft das Zusammenleben der Tenscherts mit ihren neuen Gästen problemlos. „Wir leben zwar auf einem Grundstück, aber in getrennten Häusern, das erleichtert natürlich vieles“, erklärt Alexandra Tenschert, fügt aber hinzu, dass die neuen Bewohner wie selbstverständlich im Garten mithelfen oder auch mal auf ihren Nachwuchs aufpassen würden. „Anna war in der Ukraine als Köchin beschäftigt, die Kinder und mein Mann freuen sich immer, wenn sie uns Essen bringt“, so die Apothekerin weiter.

Hoffen auf ein Treffen in Odessa nach dem Krieg

Andersherum sind auch die Ukrainer froh über ihr neues Zuhause. Sie stehen täglich mit ihrer Familie in der Ukraine in Kontakt und sorgen sich um das Wohl ihrer Liebsten. „Sie wissen nicht, was sie tun sollen und können nie sicher sein, dass die nächste Rakete nicht ihr Haus trifft“, fasst Olena Kovalenko das Leid ihrer Angehörigen zusammen. Dem schließt sich auch Anna Chycheta an: „Sie meinen, es sehe so aus, als würde der Krieg noch Jahre andauern, und dass wir uns in der nahen Zukunft nicht sehen können.“

Olena Kovalenkos sehnlichster Wunsch bleibt: „Ich will einfach nur mein Leben zurück.“ So hofft sie auf einen Sieg der Ukraine und meint, ihre Landsleute sollen weiterkämpfen: „Ich will nicht, dass die Ukraine ein Teil Russlands wird. Und wenn wir aufgeben, werden sie mein ganzes Land einnehmen“, befürchtet sie.

Anna Chycheta möchte die Ukrainer ebenfalls ermutigen, durchzuhalten, allerdings hofft sie noch auf eine diplomatische Lösung. Trotzdem kennt auch sie die Angst, dass die Dinge nie mehr so sein werden wie zuvor – egal, wer den Krieg gewinnen sollte: „Ich denke, die Ukraine wird sich lange Zeit nicht erholen“, meint sie.

Umso dankbarer sind die Kriegsflüchtlinge für all die Hilfe und das herzliche Willkommen, das sie hier erfahren durften. Olena Kovalenko werde daher ganz sicher mit den Menschen in Kontakt bleiben, die sie in Deutschland kennenlernen durfte „und ich hoffe, dass sie mein Land und mein Heim besuchen und dann meine Gäste sind“.

Ein Vorhaben, das auch die Tenscherts gerne in die Tat umsetzen würden: „Wir hatten tatsächlich vor dem Ukrainekrieg vor, nach Odessa zu reisen“, sagt das Ehepaar. „Nachdem wir jetzt Flüchtlinge aufgenommen haben, die zufällig aus dieser Stadt kommen, bin ich mir sicher, dass wir sie dort eines Tages besuchen werden – wenn es die Stadt bis dahin noch geben wird“, so Alexandra Tenschert weiter.