Wettstetten
Raus aus der Einsamkeit

In der Caritas-Tagespflege in Wettstetten erleben Betreuungsbedürftige einen möglichst normalen Alltag

18.05.2022 | Stand 23.09.2023, 1:15 Uhr

Bewegung, Ansprache, Aktivierung: In der Obhut von Sabine Englisch sind die Seniorinnen und Senioren gut aufgehoben. Wer sich für das Angebot interessiert, kann unter der Telefonnummer (0841) 37081991 Kontakt aufnehmen. Foto: Gülich

Von Anne Gülich

Wettstetten – „Der Mai ist gekommen“ – als Betreuungskraft Sabine Englisch dieses Lied in der Caritas-Tagespflege neben dem Wettstettener Rathaus anstimmt, singen die neun anwesenden Gäste mit. Der Text ist allen präsent und auch bei den passenden Bewegungen ist jeder dabei. Nach dem Lied entwickelt sich zwischen den um einen großen Tisch sitzenden Tagespflegebesuchern, Sabine Englisch und Sabine Rosenkranz, der Leiterin der Einrichtung, ein Gespräch über den Frühling; es wird viel gelacht und erzählt. „Es ist für uns alle, Besucher und Betreuer, eine riesengroße Freude, dass die Tagespflege nun zumindest wieder an zwei Tagen in der Woche geöffnet hat und dass wir hier wieder Gemeinschaft erleben können und unsere Gäste rauskommen aus ihrer Einsamkeit zuhause“, hält Rosenkranz fest.

Das Konzept ist dabei ganz dem Menschen zugewandt: Pflege- oder betreuungsbedürftige Personen verbringen einen oder mehrere Tage pro Woche in der Tagespflege und erleben dort einen möglichst normalen Alltag in familiärer Atmosphäre. „Wir sprechen die Sinne auf vielfältige Weise an, durch Tätigkeiten wie kochen, backen, gemeinsame Mahlzeiten, singen, Gartenarbeit, bügeln, Gedächtnistraining, Sitzgymnastik und vieles mehr“, berichtet Rosenkranz. Dies trage dazu bei, den Umzug in ein Heim hinauszuzögern oder sogar zu vermeiden. Tagespflegen unterstützen dabei, eine selbstständige Lebensführung zu erhalten oder nach einem Krankenhausaufenthalt wiederherzustellen. All das gab es während Corona nur sehr eingeschränkt, genau wie private soziale Kontakte. Die Altenpflegerin, die eine Weiterbildung zur Gerontofachkraft absolviert hat, fasst die zwei Pandemie-Jahre zusammen: „Es ist absolut erschütternd, wie Seniorinnen und Senioren abgebaut haben in dieser Zeit.“

Anna Arbesmeier (85) besucht die Wettstettener Tagespflege seit fünf Jahren. Während der Corona-Zeit, als die Wettstettener Einrichtung geschlossen hatte, weil die geforderten Abstände nicht eingehalten werden konnten, konnte sie an einem Tag in der Woche in die Tagespflege Gaimersheim ausweichen. „Das war das, was wir möglich machen konnten: ein Tag für jeden in Gaimersheim“, berichtet Gerlinde Stark, Geschäftsführerin der dortigen Caritas Sozialstation. Angehörige seien in dieser Zeit zunehmend an ihre Grenzen gekommen. Auch Manfred Arbesmeier, Annas Ehemann, ist froh, dass sich die Lage nun normalisiert. „Ich bin so glücklich, dass Anna wieder zwei Tage herkommen kann und demnächst vielleicht auch wieder drei, wie vor der Pandemie“, sagt der 87-Jährige, der seine an Demenz erkrankte Frau immer persönlich zum Kirchplatz fährt und auch wieder abholt. Er ist zutiefst dankbar für die Entlastung, die ihm das bringt. „Zuhause möchte Anna immer arbeiten, weil sie das so gewöhnt ist, sie hat ihr ganzes Leben gearbeitet. Ich muss sie permanent beschäftigen.“ Aber alles, was mit Denken zu tun habe, bekomme sie nicht mehr hin.

„Insgesamt ist es erschreckend zu sehen, was mit Menschen passiert, denen über längere Zeit Kommunikation und soziale Kontakte fehlen. Natürlich ist jeder unterschiedlich, aber insgesamt tun Gemeinschaft und das miteinander Reden jedem gut“, ist sich Rosenkranz sicher. Sie ist froh, dass sie nun selbst jeden Tag an ihren Schützlingen sehen kann, wie positiv sich in Gemeinschaft erlebte Zeit auf die Stimmung auswirkt. Ganz wichtig ist es ihr dabei zu erspüren: Was bewegt den Gast, gerade auch seelisch? Was steckt hinter seinem Verhalten? Auch die spezielle nicht-medikamentöse Demenz-Therapie (MAKS-Therapie) der Einrichtung bewegt viel: Die Gäste werden kognitiv, motorisch und alltagspraktisch gefördert. Durch Erinnerungs- und Gedächtnispflege bleiben Fähigkeiten erhalten, Ressourcen werden geweckt. Rosenkranz verdeutlicht: „Durch diese Anregungen erleben die Besucher auch ihr Zuhause wieder ganz anders. Und die Angehörigen dort haben ja auch von dem Freiraum profitiert, es gibt also einen Positiv-Aufschwung auf beiden Seiten.“

Sozialstations-Geschäftsführerin Gerlinde Stark hofft, dass die Nachfrage nach Tagespflegeplätzen, die vor der Pandemie restlos ausgebucht waren, wieder zunimmt. „Unser ziemlich hochgestecktes Ziel ist es, bis zu den Sommerferien Wettstetten wieder jeden Tag öffnen zu können“, erklärt sie. Gefühlt fangen die Tagespflegen wieder von vorne an. Stark schildert: „Es ist schon traurig. Es sind zwar schon einige neue Besucher dazu gekommen, aber von den zwölf Gästen von vor Corona kommen noch zwei. Die anderen sind entweder gestorben, im Heim oder trauen sich noch nicht.“

Dabei ist alles gut geregelt: Mitarbeiter und Besucher werden getestet, bevor sie den Aufenthaltsraum betreten. So ist für die Sicherheit der Besucher gesorgt. Und schließlich ist der Schutz vor Corona nur die eine Seite der Medaille – Einsamkeit, Sprachlosigkeit und Depression die andere.

Drei Fragen an Gerontofachkraft Sabine Rosenkranz, Leiterin der Tagespflege in Wettstetten

Frau Rosenkranz, was bedeutete die Corona-Zeit für ihre Tagespflege-Besucher?
Sabine Rosenkranz: Die alten Menschen haben massiv gelitten. Das normale Alltags-Beziehungsgeflecht ist weggebrochen, die sozialen Kontakte, die Ansprache. Da haben viele sehr abgebaut. Für alte Menschen war das eine sehr bedrängte Zeit, die viele in Einsamkeit und Depression getrieben hat. Wo sie sich über die Monate und Jahre dann irgendwie eingerichtet haben.

Aber sind jetzt nicht alle froh, dass die Gefahr, die vom Virus ausgeht, nicht mehr so gravierend ist und dass vieles wieder möglich wird?
Rosenkranz: Ganz so einfach ist das nicht. Gerade alte Menschen müssen erst mal wieder begreifen, dass es auch noch etwas anderes gibt, als alleine zuhause zu sitzen. Wieder in soziale Kontakte hineinzufinden ist da eine große Aufgabe, ein Prozess, ein Weg, den jeder für sich selbst gehen muss. Die Leute fühlen sich selbst gar nicht mehr, dann ist es auch schwierig, anderen zu begegnen.

Wie wirken Sie dem in der Tagespflege entgegen?
Rosenkranz: Wie gesagt, kommen müssen die Besucher erst mal selbst. Sie müssen bereit sein, aus ihrer Einsamkeit und ihren festen Strukturen herausgerissen zu werden. So ein Schritt nach draußen kostet Überwindung und viel Kraft. Da ist wirklich Mut gefragt. Dann aber hier wieder Gemeinschaft zu erleben, ins Miteinander und in die Gruppe hineinzuwachsen, bei unseren Angeboten mitzumachen, auch selbst mal erzählen zu können, was einem auf dem Herzen liegt, das erleben alle sehr, sehr positiv. Und wir haben es in den letzten Wochen mit einigen neuen Gästen erfahren, die sich anfangs wirklich gesträubt haben: Am zweiten oder dritten Tag, als sie dann wussten, was auf sie zukommt, ging alles viel einfacher. Wenn unsere Besucher unseren Tagesrhythmus und unsere Strukturen kennen, gibt ihnen das ganz viel Sicherheit. Das braucht einfach ein bisschen Zeit.

Interview: Anne Gülich