Weltrekordjagd im Kraftwerk

01.02.2008 | Stand 03.12.2020, 6:10 Uhr

Die von Siemens neu entwickelte Gasturbine bei ihrer Ankunft in Irsching. - Foto: Siemens

Irsching / Bad Gögging (DK) Bis zum Jahr 2020 prognostizieren Experten einen Anstieg der weltweiten Stromnachfrage um 50 Prozent. Vor allem deshalb ist es laut Hans-Otto Rohwer auch "eine reine Illusion, dass die Energiepreise wieder sinken".

Eine mögliche Antwort ist laut Rohwer ein "Kraftwerk der nächsten Generation". Ein solches entsteht derzeit mit dem Block Irsching 4 mit der dort installierten größten und – nach Siemens-Angaben – zugleich umweltfreundlichsten Gasturbine der Welt als Herzstück.

Seit Anfang des Jahres befindet sich die Gasturbine mit der Bezeichnung SGT5-8000H im Testbetrieb, der voraussichtlich 18 Monate dauern wird. Ab Mitte 2009 kommt dann der "Dampf-Teil" hinzu, so dass 2011 ein Gas- und Dampfturbinenkraftwerk (GuD) an den Energieriesen E.ON übergeben werden soll.

Ist heute noch ein Wirkungsgrad von 58 Prozent das Maß aller Dinge bei einem GuD-Kraftwerk, will Siemens in Irsching die 60-Prozent-Marke knacken. "Damit setzen wir einen Meilenstein beim Wirkungsgrad", sagte Rohwer in Bad Gögging.

Diese zwei Prozent Unterschied hören sich zwar nach wenig an, machen aber viel aus. Für den späteren Betreiber der Anlage sinkt nämlich auch die Gasrechnung um eben diese zwei Prozent, was bei einem Brennstoffverbrauch von 18 Kilogramm Gas pro Sekunde oder 85 000 Kubikmeter pro Stunde nicht nur zu einer erheblichen finanziellen Einsparung führt. Allein in Irsching fallen durch die neue Technologie nach Siemens-Berechnungen zudem jährlich rund 40 000 Tonnen weniger CO2 an, was einem Kohlendioxid-Ausstoß von etwa 10 000 Mittelklasse-Pkw bei einer jährlichen Fahrleistung von 20 000 Kilometern entspricht.

Wie SGT5-8000H-Programm-manager Willibald Fischer in Irsching sagte, arbeitet Siemens hier im "Grenzmaschinenbau": Tonnenschwere und winzige Bauteile – insgesamt über 7000 – müssen mit Uhrmacherpräzision zusammengefügt werden. Beim Betrieb der neuen Turbine entstehen im Innenraum Temperaturen bis zu 1500 Grad Celsius. Gleichzeitig rotieren die Turbinenschaufeln an ihren Außenseiten mit Schallgeschwindigkeit. Dabei treten extreme Fliehkräfte auf, die ungefähr dem 10 000fachen der Eigengewichtskraft entsprechen.

Energiebündel

Doch die SGT5-8000H ist auch ein Energiebündel im wahrsten Sinn des Wortes. Allein mit der Leistung der Gas-turbine von 340 Megawatt – dies entspricht 13 Jumbo-Jet-Triebwerken –, können 620 000 Drei-Personen-Haushalte oder eine Stadt wie Hamburg mit Strom versorgt werden. Die Leistung von 530 Megawatt, die das komplette GuD-Kraftwerk erbringt, reicht sogar für die Versorgung von rund drei Millionen Menschen.

Nicht nur deshalb glaubt auch Rohwer, dass Siemens "im ständigen Wettlauf um den Wirkungsgrad" derzeit die Nase gegenüber den Mitbewerbern – vor allem General Electric, Alstom und Mitsubishi – knapp vorne hat. Aber er sieht die Entwicklung auch allmählich an einem Ende angelangt – allein schon aus Gründen der Transportkapazität. Denn mit einem Nettogewicht von 444 Tonnen (ein nicht aufgetankter Airbus A380 wiegt 361 Tonnen), mit 13,2 Metern Länge, fünf Metern Höhe und 5,2 Metern Breite stellte die Gasturbine schon höchste Anforderungen an alle, die mit dem Transport des Riesen vom Siemens-Standort Berlin, wo der Hoffnungsträger gefertigt wurde, nach Irsching quer durch die ganze Republik beschäftigt waren.

"Mehr geht kaum", so Rohwer, der froh ist, dass die Maschine in Irsching auf Herz und Nieren getestet werden kann. Denn im Berliner Werk ist dies nur mit Turbinen bis 220 Megawatt möglich.

Damit die SGT5-8000H aber nicht unausgereift in den kommerziellen Betrieb geht, kann die auf eineinhalb Jahre ausgelegte Testphase theoretisch auch verlängert werden. Denn das in sechs Jahren von über 250 Fachleuten entwickelte Vorzeigestück von Siemens Fossil Power Generation soll sich ja in den kommenden Jahren gut verkaufen und die aufgelaufenen Forschungs-, Entwicklungs- und Baukosten von insgesamt einer halben Milliarde Euro wieder hereinbringen. Mit "zehn bis 20 Verkäufen pro Jahr" in verschiedenen Modifikationen rechnet Rohwer. Neben der jetzigen Variante, die die 50-Hertz-Märkte Europa und Asien bedienen soll, ist auch ein Modell geplant, das für den 60-Hertz-Einsatz gedacht ist.

Das heißt, dass die Umdrehungszahl der Welle im Zentrum der Gasturbine von derzeit 3000 pro Minute nochmals steigt – und damit auch die Materialbelastung. Genug zu tun also auch in Zukunft für die Siemens-Ingenieure.