Ingolstadt
"Ein echtes moralisches Dilemma"

Der evangelische Militärbischof Sigurd Rink spricht im Interview über Auslandseinsätze und Gewissensfragen

10.12.2017 | Stand 02.12.2020, 17:05 Uhr

Ingolstadt (DK) Er ist der erste hauptamtliche Militärbischof der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und zuständig für etwa 100 evangelische Militärpfarrer in der Bundeswehr: Sigurd Rink. Jetzt kam er nach Ingolstadt, um hier die Militärpfarrerin Sandra Albert-Vötsch in ihr Amt einzuführen. Wir haben bei dieser Gelegenheit mit Rink gesprochen.

Herr Rink, Sie kommen gerade aus Mali und haben dort die Truppe besucht. Weit über 1000 Soldaten der Bundeswehr sind dort bei zwei Einsätzen stationiert. Besuchen Sie die Soldaten im Auslandseinsatz regelmäßig?

Sigurd Rink: Absolut. Es gibt momentan 16 Bundeswehreinsätze. Die mittleren und großen Einsätze werden immer von Pfarrerinnen und Pfarrern begleitet. Ich besuche die Geistlichen und die Soldaten regelmäßig vor Ort, ob in Afghanistan, im Irak, in Jordanien, dem Kosovo oder in Mali.

 

Ihr Eindruck: Wie geht es den Soldatinnen und Soldaten?

Rink: Das Leben im Lager ist immer eine sehr beanspruchende Situation. Man kommt quasi aus dem Lager nicht raus, es sei denn, man geht auf Patrouille. Als wir dort waren, sind gerade 200 von den deutschen Soldaten rausgefahren auf Patrouille, was in Mali nicht ungefährlich ist. Auch die lange Trennung von der Familie, von den Kindern macht ihnen zu schaffen.

 

Was sind eigentlich die Aufgaben Ihrer Geistlichen?

Rink: Seelsorge, Seelsorge, Seelsorge. Das Besondere ist ja bei den Militärpfarrern, dass sie dem strikten Seelsorgegeheimnis unterliegen. Die Soldaten gehen zum Vier-Augen-Gespräch zu ihnen und wissen: Was ich sage, das bleibt dort.

 

Bei solchen Auslandseinsätzen stellen sich fundamentale Fragen: Darf ich töten? Muss ich töten? Die evangelische Kirche hat sich mit diesen Fragen lange schwergetan. Den Militärbischof im Hauptamt gibt es erst seit 2014. Wie geht die evangelische Kirche, die immer einen starken pazifistischen "Flügel" hatte, heute mit dem Thema um?

Rink: Ein echter Quantensprung für die evangelische Kirche war die Friedensdenkschrift von 2007, wo man genau diese Dinge durchdekliniert hat. Man hat festgestellt: Es gibt Situationen, wenn Krisen richtig heiß laufen, wo man tätig werden muss - unter engen Einschränkungen und auch zusammen mit der internationalen Gemeinschaft. Die entscheidende Wende war 1995 Ruanda . . .

 

. . . der große Völkermord der Hutu an den Tutsi im ostafrikanischen Ruanda.

Rink: Ursprünglich waren Kräfte der UN im Land. Die sind zurückgezogen worden - und dann hat der Völkermord stattgefunden. 2005 haben die Vereinten Nationen gesagt, es gibt eine "Verantwortlichkeit zum Schutz" - und das ist der entscheidende Punkt. Wenn die Völkergemeinschaft sagt: "Wir können nicht einfach zusehen, wie ein Völkermord passiert", dann muss sie eingreifen. Und die Deutschen sind dabei.

 

Macht man sich - theologisch betrachtet - in einem solchen Einsatz trotzdem schuldig?

Rink: Ja, man macht sich schuldig, unbedingt. Scham und Schuld: Beides spielt immer eine Rolle. Wenn man einen anderen Menschen tötet, lädt man Schuld auf sich. Bei Verbrechen zuzusehen führt ebenfalls zu Schuld. Es ist ethisch und theologisch gesehen eine ganz schwere Güterabwägung, die sowohl der Soldat mit seinem eigenen Gewissen treffen muss, als auch auch der Befehlshaber, der ihn auf Patrouille schickt. Das ist ein echtes moralisches Dilemma. Es geht um das größere und das kleinere Übel.

 

Diskutieren Sie mit Ihren Geistlichen darüber?

Rink: Das Thema Friedensethik spielt eine große Rolle. Sowohl für die Pfarrer als auch für die Soldaten. Die Fragen von Sinnhaftigkeit, von Schuld und von Scham, kennt man aus den schwierigen Jahren in Afghanistan 2009 bis 2012, wo viele Bundeswehrsoldaten getötet oder auch traumatisiert worden sind. Das spielt eine große Rolle für jeden Einzelnen. Das kann man auch nicht beiseitelegen, indem man die Zivilkleidung an den Haken hängt und sich die Uniform anzieht.
 

Etwa 50 Prozent der heutigen Soldaten haben keine kirchliche Bindung, weder evangelisch noch katholisch. Das gilt besonders für junge Leute aus den neuen Bundesländern. Sind die überhaupt interessiert an den Angeboten der Kirche?

Rink: Sie kommen zu uns. Und zwar ganz stark überraschenderweise wegen der Kernprofession des Pfarrers. Was ein Pfarrer ist und was Seelsorge bedeutet, dafür haben die meisten noch ein Grundempfinden, und sie haben auch ein Grundvertrauen.

 

Ein großer Vertrauensvorschuss also für die Geistlichen?

Rink: . . . der noch nicht mal halt macht an religiösen Grenzen. Auch die muslimischen Soldaten, von denen es geschätzt etwa 1600 gibt, kommen häufig zum Militärseelsorger.

 

Wir begehen dieses Jahr auch das Reformationsjubiläum. Martin Luther hatte bestimmt eigene Ansichten zum Militär? Wie stellt sich eigentlich die Militärseelsorge diesem Thema in diesem Jahr?

Rink: Von Luther gibt es eine faszinierende kleine Schrift, "ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können". Nach dem Bauernkrieg hatte ihn das ein Hauptmann gefragt, der da wirklich übel gewütet hatte. Diese Schrift haben wir gerade neu herausgegeben. Da gibt's drei wirklich wichtige Aspekte. Erstens eine ganz starke Betonung des eigenen Gewissens jenseits der militärischen Hierarchie. Zweitens: Krieg ist nur zu Verteidigungszwecken da. In dem Moment, in dem du in einem Angriffskrieg eingesetzt wirst, kannst du davon ausgehen, dass du nicht mehr auf der richtigen Spur bist. Und das Dritte: Ich als Person muss Unrecht erdulden, das mich selbst angeht. Aber ich habe eine Schutzverantwortung für meine Familie, meine Stadt, mein Land. Deswegen muss ich mich auch dem Beruf des Soldaten stellen. Das sind sehr tiefgründige Erkenntnisse, die vor 500 Jahren schon gegriffen haben.

 

Und aktuell sind wie eh und je?

Rink: So ist das. Aktuell wie eh und je.

 

Die Fragen stellte Richard Auer.
 

Zur Person

Sigurd Rink (57) wurde in Frankfurt am Main geboren, ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Nach seinem Abitur 1978 leitete er, geprägt von der Friedensbewegung, vier Jahre lang Versöhnungsprojekte in Nordirland. Parallel studierte er evangelische Theologie und machte seinen Doktor, anschließend folgte ein Studium der Öffentlichkeitsarbeit. Von 1987 bis 1998 war er Gemeindepfarrer im Taunus, anschließend Referent des Kirchenpräsidenten und Pressesprecher der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Von 2002 bis 2014 war Sigurd Rink Propst für Süd-Nassau mit Sitz in Wiesbaden und damit zuständig für 220 Gemeinden, acht Dekanate und 320 Pfarrerinnen und Pfarrer. Seit 15. Juli 2014 ist er hauptberuflicher evangelischer Militärbischof. Bei der Bundeswehr gedient hat Rink übrigens nicht.