Herr
"Die Schleuser werden immer skrupelloser und grausamer"

16.12.2016 | Stand 02.12.2020, 18:54 Uhr

Fabrice Leggeri, Chef der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex, über zu erwartende Flüchtlingsströme und Abschiebungen.

Herr Leggeri, Deutschland hat 34 abgelehnte Asylbewerber aus Afghanistan abgeschoben. Heftiger Streit war die Folge. Wie wichtig sind Abschiebungen für die Akzeptanz von schutzbedürftigen Flüchtlingen?

Fabrice Leggeri: Im EU-Recht gibt es eine klare Regelung: Illegale Migranten ohne Bleiberecht in Europa müssen abgeschoben werden. Wer keinen Aufenthaltstitel erhält, muss in sein Heimatland. Die Mitgliedstaaten müssen diese Migranten zurückführen.

 

Muss das dann auch für Länder wie Afghanistan gelten?

Leggeri: Illegale Migranten müssen in Staaten zurückgeführt werden, die sicher sind. Welche Länder diese Bedingungen erfüllen - darüber gibt es auf EU-Ebene keine Liste.
 

Es ist also Sache der Mitgliedstaaten zu entscheiden, wohin nicht abgeschoben wird?

Leggeri: In der Tat. Manche EU-Mitgliedstaaten planen gerade Rückführungen. Deutschland hat bereits Abschiebungen nach Afghanistan durchgeführt. Die EU-Kommission hat ein Abkommen mit der afghanischen Regierung unterzeichnet. Auf dieser Grundlage kann Frontex nun Migranten nach Afghanistan zurückführen.

 

Der Jahreswechsel steht vor der Tür. Wie werden sich die Migrationsströme 2017 entwickeln?

Leggeri: Prognosen sind immer schwer. Ich wäre sehr froh, wenn die Flüchtlingszahlen im kommenden Jahr stabil bleiben und nicht wieder ansteigen. In diesem Jahr hatten wir insgesamt 350.000 illegale Migranten festgestellt: 180.000 kamen aus der Türkei, 170.000 aus Libyen und Ägypten. Auf der östlichen Mittelmeerroute über die Türkei hatten wir 2016 einen Rückgang um 97 Prozent. Im Moment kommen täglich ungefähr 100 Flüchtlinge in Griechenland an, im Frühjahr waren es noch bis zu 2500. Der Grund dafür ist die Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei. Natürlich können die Kämpfe in Syrien und im Irak zu neuen Flüchtlingsbewegungen in die Türkei führen. Aber der Druck nach Europa kommt zurzeit vor allem aus den Staaten Afrikas.

 

Viele bezeichnen das Mittelmeer als das Meer des Todes. Wie viele Opfer hat es 2016 gegeben?

Leggeri: Leider ist die Zahl in diesem Jahr noch einmal gestiegen. Nach offiziellen Schätzungen sind in diesem Jahr fast 5000 Menschen ertrunken. Aber wir haben mit verstärkten Anstrengungen zur Seenotrettung auch viel Leid verhindert. Nicht nur Frontex ist im Seegebieten zwischen Sizilien und der libyschen Küste mit mehr Schiffen unterwegs, sondern auch die italienischen Behörden.

 

Welche Entwicklungen beobachtet man bei Ihrer Behörde aktuell bei der Flüchtlingsmigration aus Afrika?

Leggeri: Wir stellen fest, dass die Schleuser immer skrupelloser und grausamer vorgehen. Sie gehen davon aus, dass die Flüchtlinge so oder so gerettet werden. Die Schiffe haben oft nicht einmal genügend Treibstoff, und der Proviant reicht meist nicht aus, um bis nach Italien zu gelangen. Deshalb finden die meisten Rettungsoperationen mittlerweile bereits unmittelbar an der Grenze der libyschen Gewässer statt.

 

Was halten Sie von den Überlegungen, europäische Auffang- und Asylzentren in Afrika aufzubauen?

Leggeri: Wir werden unsere Kräfte jetzt stärker auf Afrika konzentrieren. Das ist jetzt eine Priorität für uns. Frontex wird in Niger einen Verbindungsbeamten einsetzen. Es gilt, die Regierungen in Afrika stärker bei der Bewältigung des Migrationsdrucks zu unterstützen. Er lässt sich vermindern, indem man legale Wege nach Europa öffnet - zum Beispiel über Kontingente. ‹ŒDK

 

Das Interview führte

Rasmus Buchsteiner.