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Das Drama im Mittelmeer

25.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:15 Uhr

Berlin (DK) Frontex-Chef Fabrice Leggeri spricht im Interview über die Flüchtlingssituation an den EU-Außengrenzen.

Herr Leggeri, fast täglich dramatische TV-Bilder von Rettungsaktionen vor der libyschen Küste: Kommen derzeit wieder mehr Flüchtlinge aus Nordafrika über das Mittelmeer?

Fabrice Leggeri: Ja, es gibt in diesem Jahr deutlich mehr Menschen, die versuchen, aus Nordafrika über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Von Januar bis Mitte April sind fast 28 000 Menschen von Libyen aus nach Italien gelangt. Das ist ein Anstieg um 30 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Es handelt sich aber nicht um syrische Bürgerkriegsflüchtlinge, sondern vor allem um Menschen aus der Elfenbeinküste, aus Guinea, Nigeria und sogar aus Bangladesch.

 

Worauf ist die Zunahme zurückzuführen?

Leggeri: Das liegt zunächst an der instabilen Lage in Libyen. Wir haben dort noch immer keine Ansprechpartner, um die Küste gemeinsam zu kontrollieren und Schlepperbanden zu stoppen. Im Gegenteil: Die Schleuser nutzen die chaotische Lage gnadenlos aus. Sie setzen inzwischen im Durchschnitt 170 Menschen in ein Boot. Vor zwei Jahren waren es im Schnitt 100 Migranten.

 

Die EU-Bemühungen, die Zusammenarbeit mit Libyen zu verstärken, sind gescheitert?

Leggeri: Wir haben mit der Ausbildung einer libyschen Küstenwache begonnen. Bislang konnten wir 60 Offiziere trainieren. Das ist ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wir sind zu mehr bereit, aber uns fehlen die Ansprechpartner.

 

Die Hälfte der Rettungsschiffe vor der libyschen Küste kommt inzwischen von privaten Hilfsorganisationen. Nutzen die Schmuggler die Helfer aus?

Leggeri: Es ist humanitäre und rechtliche Pflicht, Menschen zu retten. Deswegen können wir den Organisationen keine Vorwürfe machen. Zugleich müssen wir versuchen, den Schlepperorganisationen nicht das Geschäft zu erleichtern, sondern ihnen das schmutzige Handwerk zu legen. 2015 fanden die meisten Seerettungen mindestens 150 Seemeilen von der libyschen Küste entfernt statt. Inzwischen sind die Rettungsschiffe viel näher an der libyschen Küste. Die Schlepper geben den Flüchtlingen deswegen noch nicht einmal Proviant und genug Treibstoff mit auf den Weg, weil sie darauf setzen, dass die Menschen gerettet werden.

 

Was schlagen Sie vor, um diese Situation zu entschärfen?

Leggeri: Das Wichtigste ist eine stabile libysche Regierung, doch das ist ein weiter Weg. Zurzeit wissen wir von Frontex nicht, wer in Libyen zuständig ist. Ich fordere eine Verstärkung der Luftüberwachung über dem Mittelmeer, sodass wir einerseits Menschen in Not retten können, aber auch herausfinden, wo die Flüchtlingsboote starten, um die kriminellen Netzwerke auszuheben.

 

Wenn die Zahl der Bootsflüchtlinge so stark steigt, wird es in diesem Jahr dann auch mehr Tote geben?

Leggeri: Ich befürchte, dass es in diesem Jahr einen traurigen Rekord geben wird. Im vergangenen Jahr sind fast 5000 Menschen auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken. Das war schon ein deutlicher Anstieg gegenüber 2015. Zugleich hat es nie so viele Schiffe von Rettungsorganisationen und von Frontex im Mittelmeer gegeben. Die traurige Wahrheit scheint zu sein, dass es da einen Zusammenhang gibt.

 

Österreich fordert die Schließung der Mittelmeerroute. Eine populäre Forderung, aber nicht umzusetzen, oder?

Leggeri: Ich möchte politische Forderungen nicht kommentieren. Gleichwohl haben wir eine Zusammenarbeit mit afrikanischen Ländern gestartet, bei der wir unsere Informationen austauschen. Mehr als 25 Länder sind eingebunden, um Schlepperbanden zu bekämpfen und Grenzen zu sichern. Zentral ist die Kooperation mit dem Niger. Die Behörden dort stoppen jetzt Menschen, die durch die Sahara nach Libyen aufbrechen. Stoppen heißt retten! Denn die Sahel-Wüste ist so gefährlich wie das Mittelmeer und kostet jedes Jahr unzähligen Menschen das Leben.

 

Von Afrika nach Europa: Papst Franziskus hat die Flüchtlingslager in Griechenland mit Konzentrationslagern verglichen. Können Sie seine Aussage nachvollziehen?

Leggeri: Als Europäer wissen wir alle, was Konzentrationslager sind.

 

Gleichwohl sind die Bedingungen für die Flüchtlinge auf Lesbos und anderen Ägäis-Inseln elendig. Sollen damit Zuwanderer abgeschreckt werden?

Leggeri: Die Situation der Flüchtlinge auf den Inseln ist beklagenswert. Wir können nicht dulden, dass es Menschen gibt, die dort im Winter keine Unterkunft haben. Ich habe mich bei den griechischen Behörden darüber beschwert. Wir haben ein Frontex-Büro zur Verfügung gestellt, um dort eine Schule für Migrantenkinder einzurichten, weil wir nicht länger zusehen konnten. Ich hoffe, dass die Lage auf den Inseln nicht absichtlich so verheerend ist, um gezielt abzuschrecken. Aber am Geld kann es nicht liegen, Griechenland erhält finanzielle Unterstützung von der EU. Ich rufe die griechische Regierung auf, die Lage der Menschen dort zu verbessern.

 

Anfang der Woche sind wieder mehr als ein Dutzend Bootsflüchtlinge vor den griechischen Inseln ertrunken. Kommen auch über diese Route wieder mehr Menschen nach Europa?

Leggeri: Die Route von der Türkei durch das östliche Mittelmeer nach Griechenland ist praktisch dicht. Seit Anfang des Jahres sind etwa 6000 Menschen über diesen Weg nach Griechenland gelangt. Das sind 94 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum, bevor das Abkommen in Kraft getreten war. Seit März 2016 sind mehr als tausend Migranten in die Türkei zurückgebracht worden.

 

Erfüllt die Türkei ihre Verpflichtungen vollständig?

Leggeri: Auf operativer Ebene ja. Allerdings gibt es seit dem Putschversuch im vergangenen Sommer in vielen Bereichen neue Ansprechpartner für uns, weil die Beamten ausgetauscht worden sind. Da müssen wir in der Zusammenarbeit dann mitunter wieder von vorne anfangen. Der gute Wille ist weiter da.

 

Gibt es neue Ausweichrouten, etwa über den Balkan?

Leggeri: Über die Balkanroute gab es in diesem Jahr bis Ende März 2800 illegale Grenzübertritte. Im vergangenen Jahr waren es insgesamt 123 000. Insofern ist dieser Weg praktisch geschlossen. Auch sonst gibt es keine neuen Brennpunkte. Das große Drama ist das zentrale Mittelmeer. ‹ŒDK

 

Der französische Ministerialbeamte Fabrice Leggeri ist seit 2015 Direktor der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache (Frontex), deren Zentrale in Warschau angesiedelt ist. Die Fragen stellte Tobias Schmidt.