Ingolstadt
Nicht immer ein guter Schnitt

Die Kliniken in der Region kämpfen gegen rote Zahlen und Vorwürfe, sie würden zu viel oder schlampig operieren

17.12.2012 | Stand 03.12.2020, 0:42 Uhr

OP-Szene aus dem Neuburger Krankenhaus: Die Kliniken in der Region wehren sich gegen Vorwürfe, sie würden unnötige Eingriffe vornehmen, nur um Geld zu machen. In Ingolstadt und dem Umland steigt die Zahl der Operationen nur moderat, sagen die örtlichen Kassen. - Foto: Rein

Ingolstadt (DK) Heribert Fastenmeier reagierte richtig sauer. Der Geschäftsführer des Ingolstädter Klinikums gilt zwar auch sonst als Mann der klaren Worte. Aber das, was Uwe Deh vom AOK-Bundesverband vor einigen Tagen bei der Vorstellung des Krankenhaus-Reports 2013 verkündete, brachte den Manager wirklich auf die Palme. Die Krankenhäuser würden auf Teufel komm raus operieren, obwohl viele Eingriffe nicht notwendig seien, lautete der Tenor.

Noch dazu stimme die Qualität mitunter nicht. Solche Vorwürfe weist Fastenmeier vehement zurück. "Jetzt reicht's uns wirklich", schimpft er. Von dicken Gewinnen ist das Haus weit entfernt, nicht nur das Klinikum schreibt rote Zahlen. Wirtschaftliche Sorgen plagen auch Fastenmeiers Kollegen in den Krankenhäusern der Region. Sie stehen mit ihm auf einer Linie, selbst wenn jeder mit einer gesunden Portion Misstrauen die Mitbewerber beäugt. "Alle Eingriffe bei uns sind medizinisch indiziert", versichert Dietmar Eine, Geschäftsführer im Krankenhaus Schrobenhausen. Das Credo von Gunther Schlosser, Verwaltungschef der Eichstätter Altmühltalkliniken, lautet: "Die Interessen des Patienten haben immer im Vordergrund zu stehen."

Gleichwohl schaffen viele Häuser – auch in Ingolstadt und dem Umland – Anreize für ihre Chefärzte, möglichst viel Geld hereinzubringen. Das können Bonusvereinbarungen sein, wonach die Mediziner anteilig mehr verdienen, je mehr (Privat-)Patienten sie verarzten. Oder Zielvereinbarungen, bei denen es um interne Einsparungen geht, die den Chefs letztlich ebenfalls mehr Geld bringen. In der Region scheren offenbar einzig die St. Elisabeth-Kliniken in Neuburg aus. „Wir sind noch völlig altbacken“, erklärt der Geschäftsführer des Ordenskrankenhauses, Günter Strobl. „Bei uns gibt es keine Chefarztverträge mit Beteiligung.“ Die Wirtschaftlichkeit ist jedoch hier wie dort ein stets präsentes Thema, seitdem der Gesetzgeber vor knapp zehn Jahren die Abrechnung von Krankenhausleistungen nach Fallpauschale eingeführt hat. Seither gibt es Geld für jeden Fall und nicht mehr für die Liegetage. Je mehr Diagnosen, desto mehr landet am Ende in den Klinikkassen.

So verwundert es nicht, dass Mediziner intern angehalten sind, „fleißig Fälle zu generieren, damit Geld fließt“, wie Klinikärzte aus der Region unabhängig voneinander und übereinstimmend in vertraulichen Gesprächen einräumen. Liegen die Kassen also doch richtig? Ganz so einfach lässt sich diese Frage nicht beantworten. Für den Laien stellt sich die Vergütung von medizinischen Leistungen als hochkomplexes System dar. Früher war es so geregelt, dass die Vergütung von Krankenhausaufenthalten über Tagespflegesätze erfolgte. Das hatte dazu geführt, dass die Verweildauer der Patienten sich mitunter ordentlich in die Länge zog. Um das abzustellen, war ab 2002 die Abrechnung nach diagnosebezogenen Fallgruppen eingeführt worden. Weil alles einen englischen Namen tragen soll, hieß das Kind fortan Diagnosis Related Groups, kurz DRG genannt. Stark vereinfacht ausgedrückt, erhalten die Krankenhäuser für ihre Arbeit Fallpauschalen, die jedoch keine Komplikationen berücksichtigen. Muss ein Patient länger als für den jeweiligen Eingriff üblich in stationärer Behandlung bleiben, erhält die Klinik das nicht mehr vergütet – es sei denn, die Krankenkasse stimmt nachträglich zu. Die zu erwartenden Fallzahlen eines jeden Hauses kommen im Frühjahr für das jeweilige Kalenderjahr zur Verhandlung. Wird diese Marke bis 31. Dezember überschritten, gibt es nur 70 Prozent der üblichen Vergütung. Oder nichts.

Immer öfter bleiben die Krankenhäuser auf erbrachten Leistungen komplett sitzen. Das passiert etwa, wenn Notfallpatienten zur Beobachtung über Nacht bleiben müssen, ein häufiges Szenario. Die Kassen bezahlen die Behandlung, nicht aber das belegte Bett. Das System schafft demnach Anreize, möglichst hohe Fallzahlen zu erreichen, um wirtschaftlich bestehen zu können. Nur in der Psychiatrie gilt (noch) die früher übliche Tagessatzregelung. Aber auch das soll sich schon bald ändern.

Die jüngste Kritik aus dem AOK-Bundesverband kommt justament zum anstehenden Jahreswechsel und vermutlich nicht von ungefähr. Denn die Verhandlungen über die Erlösbudgets der Krankenhäuser für 2013 beginnen spätestens ab Februar. Da kann ein kleiner Warnschuss nicht schaden, frei nach dem Motto „Freunde, fahrt eure Erwartungen lieber mal herunter“. Mögen die Kassen im Moment noch so voll sein. Doch hier zeigen zwei Parteien gegenseitig mit dem Finger aufeinander, wegen Vorgaben, die doch von ganz anderen zu verantworten sind. Denn das Gesundheitssystem ist keine Erfindung der Kassen oder Krankenhäuser, sondern von der Politik so gemacht. Und das lässt den Verantwortlichen in den Kliniken, um wirtschaftlich bestehen zu können, oft keine andere Wahl, als die Zahl der Eingriffe zu steigern oder zumindest auf hohem Niveau zu halten.

Dabei machen sie nicht einmal die „dicke Kohle“, wie ihnen oft unterstellt wird. Alle regionalen Häuser werden heuer teilweise ordentlich Miese einfahren, wie schon vergangenes Jahr. Allein 2,6 Millionen Euro sind es am Ingolstädter Klinikum, wie Heribert Fastenmeier offen einräumt. Von roten Zahlen sprechen auch seine Kollegen in den umliegenden Kreisstädten. Ein guter Teil ist den tariflich ausgehandelten Gehaltssteigerungen geschuldet. „Aber auch das Pflegepersonal muss gut bezahlt sein“, heißt es unisono. Warum lassen sich solche Ausgaben in den regionalen Häusern nicht schultern, wenn, wie Kassen klagen, mehr denn je operiert wird?

Zum einen liegt es daran, dass sich die harsche Kritik aus dem Hause Bundes-AOK, heruntergebrochen auf örtliche Ebene, schon deutlich versöhnlicher anhört. „Die Krankenhäuser in der Region liefern durchweg gute Qualität. Bei der Zahl der Eingriffe haben wir eine nur moderate Steigerung festgestellt.“ Das sagt der Ingolstädter AOK-Direktor Ulrich Resch, zuständig für über 130 000 Versicherte in der Region. Sein Kollege Gerhard Fuchs, der bei der Audi-BKK mit knapp 543 000 Versicherten das Sagen hat, stößt ins selbe Horn: „Es gibt nur einen leichten Zuwachs, aber wir haben auch immer mehr Leute zu betreuen.“

Entgegen der Meinung bei den Krankenkassen argumentieren alle Klinikchefs in der Region unter anderem mit dem demografischen Wandel, was die steigenden OP-Zahlen betrifft. „Die Leute werden älter, so dass jemand schon mal zwei neue Hüftgelenke bekommt, wo es früher nur eins war“, erklärt Günter Strobl von den Neuburger Kliniken. „Außerdem sind die Möglichkeiten gewachsen. Der Patient kennt sie und ruft sie auch ab.“

Um bestehen zu können, haben sich die meisten regionalen Krankenhäuser „neue Geschäftsfelder erschlossen“, wie es bei den Kassen heißt. Die Schrobenhausener und Köschinger etwa erweiterten ihre OP-Säle, so dass sie jetzt besonders fettleibige Menschen, ein Problem unserer Zeit, behandeln können. Die Neuburger sind mit ihrer Frühchenstation und der Kinderpsychiatrie spezialisiert, Pfaffenhofen und Eichstätt bieten etwa Fachabteilungen für Herzeingriffe an. Wie sehr eine solche Ausrichtung vom Chefarzt (und Boniverträgen) abhängt, zeigt das Beispiel Pfaffenhofen: Die Ilmtalklinik wies voriges Jahr einen Fehlbetrag von knapp einer halben Million Euro auf – mit der Begründung, dass eine Chefarztstelle zeitweise unbesetzt und deshalb starke Umsatzrückgänge zu verzeichnen gewesen seien, hatte Marco Woedl bei der Vorstellung der Zahlen gesagt. Für einen aktuellen Situationsbericht fand der Geschäftsführer trotz Nachfrage keine Zeit.

Das Ingolstädter Klinikum präsentiert sich hingegen „breit aufgestellt“, mit nahezu allen Optionen, die moderne Medizin heute bietet. Dennoch gehen nur 65 bis 70 Prozent der Überweisungen von niedergelassenen Ärzten aus Stadt und Region dorthin. Warum das so ist, vermag Geschäftsführer Fastenmeier nicht zu deuten. Manche sagen, es sei eine Retourkutsche wegen des dort angeschlossenen Medizinischen Versorgungszentrums (im Übrigen bisher ein Draufzahlprojekt), das viele Ärzte draußen als Konkurrenz sehen. Andererseits „machen andere Krankenhäuser in der Region dieselbe Erfahrung“, meint Fastenmeier. Das größte Krankenhaus der Region leidet auch darunter, dass finanziell unrentable Fälle gerne nach Ingolstadt abgeschoben werden, wie aus Kassenkreisen zu hören ist. Erhebliche Verluste fährt zudem der OP-Roboter Da Vinci ein. Die Kassen kommen für den Mehraufwand nicht auf. Das Geschäftsjahr 2012 sieht laut Fastenmeier ähnlich aus wie 2011: Er kommt auf etwas über 40 000 Fallpauschalen und macht trotzdem ein Minus.

Wie nahe am Abgrund manche Einrichtung trotz solider Verwaltung durch das Abrechnungssystem schwebt, mag das Beispiel der Neuburger St. Elisabeth-Kliniken verdeutlichen. Im Schnitt werden dort jedes Jahr 35 bis 55 extreme Frühgeburten versorgt, das sind Kinder mit weniger als 1500 Gramm Körpergewicht. „Wenn es dort einmal nur drei bis fünf Fälle weniger gibt, kann das schon an die Existenz gehen“, warnt ein maßgeblicher Krankenkassenvertreter. Denn die Vergütung nach DRG-System gehe pro Frühchen „deutlich in den sechsstelligen Bereich“.

Frühgeburten können nicht „generiert werden“, andere Fallpauschalen schon. Und so werden die Kliniken, um im Alltag bestehen zu können, die Möglichkeiten künftig weiter ausschöpfen, selbst wenn sie das nach außen bestreiten. Da geht es mitunter hart her. In Eichstätt etwa ist erst kürzlich ein Chefarzt ausgeschieden, einvernehmlich, wie es offiziell hieß. Hinter den Kulissen ist jedoch die Rede davon, ihm soll das Wohl der Patienten wichtiger gewesen sein als Zielvorgaben auf der Einnahmenseite. Und in den Gassen der Bischofsstadt geht der Witz um, man werde mit ein wenig Bauchweh ins Krankenhaus gebracht und ende mit einem Herzkatheder. Am Klinikum Ingolstadt gibt es eigens Vorträge für die Mediziner, damit ja nichts unter den Tisch fällt. Da sollen schon Sätze gefallen sein wie „Machen Sie dies oder jenes nicht an einem Kassenpatienten, das bringt kein Geld“, berichten Teilnehmer solcher DRG-Seminare. Der Patient als Melkkuh, weil die Krankenhäuser nur noch auf die Finanzen schauen? Oder doch ein Fehler des Systems? „Es ist eine überaus belastende Diskussion“, bedauert Schrobenhausens Klinikleiter Dietmar Ende, dass es am letzten Glied in der Kette ausgeht. Sein Eichstätter Kollege Gunther Schlosser plädiert deshalb dafür, „die Anreize mit der rein leistungsbezogenen Abrechnung auf nationaler Ebene abzuschaffen.“ Oder wie eine Klinikärztin es formuliert: „Es kann doch nicht sein, dass der Fall mehr zählt als der Mensch!“