Nürnberg
Im Reich der Grausamkeit

Calixto Bieito inszeniert Giacomo Puccinis "Turandot" am Staatstheater Nürnberg

06.10.2014 | Stand 02.12.2020, 22:09 Uhr

Der Held in der Masse: Vincent Wolfsteiner singt den Calaf - Foto: Ohla

Nürnberg (DK) Intendanten lieben Calixto Bieito. Denn er schafft ihrem Haus internationale Aufmerksamkeit – der Katalane gilt als einer der weltweit renommiertesten Opernregisseure. Aber er bringt auch den Saal zum Kochen. Denn Bieito vermag es, Emotionen zu entfachen, zu provozieren, Bilder zu entwickeln, die schockieren und die lange im Gedächtnis haften bleiben.

Nach der Premiere von Puccinis letzter, unvollendeter Oper „Turandot“ am Staatstheater Nürnberg war das Echo im Zuschauerraum fast so lautstark wie die Klanggewalt von Bühne und Orchestergraben: Die Zuschauer versuchten, sich minutenlang mit Bravo- und Buhrufen zu übertrumpfen.

Aber was gibt es zu sehen? Für Bieito spielt das uralte Märchen im China der Gegenwart, unter Neonleuchten in einer Fabrikhalle. Im Hintergrund eine Art chinesische Mauer aus Pappkartons, vorne stehen Fabrikarbeiter, die ihre blauen Arbeitskleider so korrekt tragen wie einige Jahre zuvor noch den Mao-Anzug. Produziert werden nackte Babypuppen. Im Hintergrund, projiziert, schaut ein überlebensgroßer Chinese dem Publikum direkt in die Augen: eine fernöstliche Variante von Orwells „Big Brother“.

Bieito schildert eine Welt des Grauens. Eine Welt, in der sich die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts spiegeln, die Gleichmacherei des Kommunismus genauso wie die faschistoide Lust an der Unterwerfung und die Praxis des diktatorischen Kapitalismus wie man ihn heute in China findet. Eine Welt, in der Grausamkeit ästhetisch zelebriert wird. In der Wächter minutenlang auf Calaf einschlagen, weil er Turandots Rätsel lösen möchte. Wo Menschen mit „Verräter“-Schildern gedemütigt werden. In der Frauen unterworfen, vergewaltigt und gequält werden. Und wer nicht in den blauen proletarischen Volksmassen untergeht, stellt seelisch deformiert seine Neurosen aus, wie die drei Minister, die sich als Bräute verkleiden.

Eine Welt der pervertierten Liebe, durchdrungen von Turandots eisiger Brutalität, die wiederum die Vergewaltigung und Ermordung einer ihrer Ahninnen am Geschlecht der Männern rächen möchte: In dieser Geschichte, in der der ewige Beobachter im Bühnenhintergrund sein Gesicht nach und nach schwärzt, kann es kein Happy End geben. Auf das märchenhafte Ende der Oper, mit dem Puccini so gerungen hat und über das er starb, auf diesen Schlussteil, der von Franco Alfano schließlich komponiert wurde, hat man in Nürnberg verzichtet. Es hätte der nüchternen, fast schon veristischen Deutung Bieitos widersprochen. Nach dem Liebestod der gefolterten Liù sieht man so in den letzten Minuten der Oper eine verzweifelte Turandot, die, glatzköpfig eine der nackten Puppen liebkost und ihr die Gliedmaßen ausreißt.

Bieitos China ist so lieblos, so öde, dass nicht einmal eine so rauschend leidenschaftliche Arie wie „Nessun doma“ von Calaf die Szenerie erglühen lässt. Dirigent Peter Tilling passt sich mit seiner Interpretation der modernistischen Deutung des Katalanen an. Wo es Bieito an märchenhaft geschönter Fantasterei fehlen lässt, da verzichtet Tilling darauf, die Partitur mit falschem Glanz und oberflächlichem Schmachten aufzupolieren. Er denkt sich Puccini nicht von der Romantik, sondern von der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts her, in dem sich Weltperspektiven nicht mehr zu geschlossenen Weltbildern zusammenfügen wollen. Sein Puccini klingt so eher nach Béla Bartók und Alban Berg als nach Verdi und Wagner – und manchmal leider auch ein wenig zu nüchtern.

Die vokale Urgewalt der Rachael Tovey als Turnadot kommt geradezu furchteinflößend daher: Die Engländerin übertönt einfach alles, selbst Chor und Orchester noch, und kann dabei doch ihre Töne mit Präzision formen. Gegen sie kann sich der wirklich strahlende Heldentenor Vincent Wolfsteiner als Calaf gerade noch behaupten, während Hrachuhi Bassénz als Liu enorm weiche, wunderschöne Kantilenen singt.

Nichts allerdings wirkt eindrucksvoller an diesem Premierenabend als der Chor des Staatstheaters. Uniform und gleichgeschaltet wie eine Heeresformation sind seine brutal lauten Töne immer wieder Schlachtrufe der Lieblosigkeit und Grausamkeit.