Neuburg
Spurensuche in der Familiengeschichte

Katja Petrowskaja wurde mit ihrem Roman "Vielleicht Esther" bekannt – Nun erhält sie den Neuburger Ernst-Toller-Preis

28.01.2015 | Stand 02.12.2020, 21:43 Uhr

Neuburg (DK) Kritiker greifen zu Superlativen und sprechen von „großer Literatur“, „einem überwältigenden Debüt“ und „großartigem Geschenk an die deutsche Sprache“, Zuhörer lassen in Lesungen ihren Tränen freien Lauf, und Jurys nominierten sie binnen zwei Jahren für vier renommierte Preise: Mit Katja Petrowskaja aus Kiew erstrahlt seit Kurzem ein hell leuchtender neuer Stern am deutschsprachigen Literaturhimmel.

Am Sonntag, zwei Tage vor ihrem 45. Geburtstag, erhält die Wahlberlinerin in Neuburg den Ernst-Toller-Preis, wie schon zuvor den Ingeborg-Bachmann-Preis 2013, den Aspekte-Literaturpreis 2014 und die Nominierung zum Preis der Leipziger Buchmesse 2014.

Wer sich nur ein wenig in ihren „Geschichten“-Band „Vielleicht Esther“ einliest, ahnt, dass es nicht der letzte Preis für die Erzählerin sein wird, die als Tochter einer Historikerin und eines Literaturwissenschaftler einer jüdischen Familie aus der Ukraine entstammt, Philologie in Tartu in Estland studierte, 1998 in Moskau promovierte und 1999 mit ihrem deutschen Mann nach Berlin übersiedelte, weil sich in Moskau die Politik Putins anbahnte.

„Vielleicht Esther“ war die Antwort des Vaters, als sie diesen nach dem Namen seiner Großmutter fragte, die alle nur Babuschka nannten. Für die Tochter war das ein Anlass, der eigenen Familiengeschichte nachzuspüren, die engmaschig mit dem Holocaust verwoben ist. Denn im Zentrum ihrer Recherchen steht die Erkundung von Babij Jar, einer Schlucht bei Kiew, wo 200 000 Menschen erschossen wurden, auch viele Familienmitglieder. Darunter war auch die Babuschka, die im August 1941 nicht wie die anderen vor der Wehrmacht aus Kiew floh, da sie kaum mehr laufen konnte. Fatalerweise vertraute sie den Besatzern eher als den Ukrainern: Als sie sich treuherzig zwei deutschen Soldaten nähert, wird sie „mit nachlässiger Routine erschossen“, beinahe beiläufig, der Soldat unterbricht dabei kaum sein Gespräch mit dem Kameraden.

Auf ihrer Spurensuche nach dem Stammbaum ihrer weitverzweigten Familie reiste die Autorin umher zwischen Berlin, Kiew, Wien, Warschau und Mauthausen, um Lücken in der oralen Überlieferung zu schließen. Ihre Funde in Archiven, Ergebnisse von Interviews, Erinnerungen aus Erzählungen und Resümees aus Recherchen schmolz sie in lapidar kurze Geschichten und Episoden, deren lässig-leichter Ton an Sasa Stanisic erinnert. Wie dieser lernte auch sie erst spät Deutsch – mit 26 Jahren. Nun auf Deutsch mit derartiger Leichtigkeit vom Holocaust zu erzählen, gelang bislang wohl nur Jurek Becker („Jakob der Lügner“). „Vielleicht Esther“ ist eine Familiegeschichte in prägnanten Prosa-Perlen. Zu der Familie gehören Vorfahren wie ihr Urgroßvater Ozjef Krzewin, dessen Passion es war, taubstumme Kinder zu unterrichten, oder der Großonkel Judas Stern, der am 5. März 1932 mitten in Moskau ein Attentat auf den deutschen Botschafter Fritz von Twardowski verübte und deshalb hingerichtet wurde.

In der Prosa der Katja Petrowskaja wächst zusammen, was nicht zusammengehört, aber doch bestens zusammenpasst, wenn man fast auf jeder Seite auf völlig unerwartbare Verknüpfungen stößt: Über Berlin heißt es, dass diese Stadt „zu einer der friedlichsten in der Welt geworden ist und diesen Frieden fast aggressiv betreibt“, über das jüdische Dorf Janów Podlaski: „Sogar einen Pferdefriedhof gebe es dort, nein, der jüdische Friedhof sei nicht erhalten geblieben.“ Die Preiswürdigkeit dieser Autorin steht außer Frage!

 

Katja Petrowskaja: „Vielleicht Esther“. Erzählung, Suhrkamp Verlag Berlin 2014, 285 Seiten, Preis 19,95 Euro.