Ingolstadt
Der übermächtige Brecht

06.10.2013 | Stand 25.11.2013, 9:43 Uhr

Im Glaskasten: Bettina Storm als Marieluise Fleißer (Mitte) in Johann Kresniks Inszenierung im Großen Haus. - Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Pflastersteine knallen wie Todesschüsse. Messer ritzt Metall. Blut fließt. Eiter spritzt. Eine Axt zertrümmert Brecht-Büsten. Eine Frau sitzt im Glaskasten und schreibt mit roter Farbe „Grob ist die Liebe“ auf die Scheibe.

Ein kraftmeierisches „Mir san mir“ in der Lederhose ertönt. Ein schwarzer Schatten schmiegt sich an sein weißes Ebenbild. Zigarren. Arroganz. Nackte Brüste. Ein abgeschnittener Penis. Bilder von Bert Brecht. Bilder von Marieluise Fleißer. Schwarze Löcher. Geschrei. Dazu zerrt und sirrt die Geige, trommelt das Schlagzeug, flirren die Becken, bis sich ein weißes Rauschen im Kopf festsetzt. „Lebenmüssen ist eine einzige Blamage“ hat Christoph Klimke – nach einem Fleißer-Zitat über Buster Keaton – sein Stück über Marieluise Fleißer genannt, das am Samstagabend im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt seine Uraufführung erlebte. „Erleben“ ist in der Tat das passende Wort. Denn wie Regisseur Johann Kresnik das knappe Dutzend Szenen aus Leben und Werk der Ingolstädter Autorin (1901–1974) auf die Bühne bringt, hat man in dieser Form hier noch nicht gesehen. Und man versteht, warum man Kresnik auch den „Theaterberserker“ nennt. Seine Bühnensprache ist radikal, energiegeladen und voller Wucht. Seine Schauspieler sprechen nicht, sie deklamieren. Er mischt das Groteske mit dem Existenziellen, den Kitsch mit dem Pathos, den Trotz mit der Lächerlichkeit. Er türmt Bild auf Bild. Schwarz und weiß. Alles muss groß und laut sein, drastisch und derb. Sex, Gewalt, Blut, Defiliermarsch, Hakenkreuz, Komik. Er spielt damit, Bürgerschreck zu sein. Er liebt das Spektakuläre und das Spektakel. Aber – und das macht den Reiz dieser Inszenierung aus – Kresnik bleibt nicht in Lärm und Bilderflut stecken, sondern erzählt in diesen elf kurzen Szenen tatsächlich etwas Elementares vom steten Kampf einer Schriftstellerin, die sich aus der Enge der Heimat hinausgeschrieben hat. Und auch wenn man Kresnik ankreiden muss, dass wieder mal BrechtBrechtBrecht eine übermächtige Rolle erhalten hat, so gibt es am Ende – nach 85 Minuten faszinierender, kräftezehrender Theaterberserkerei – großen Jubel, minutenlangen Applaus und einen Kuss des Regisseurs für seine Hauptdarstellerin. Bettina Storm als Marieluise Fleißer ist wirklich ein Entdeckung.

Aber der Reihe nach: Marion Eiselés Bühne ist ein Erinnerungsraum. Eng. Abgeschlossen. Ein sich nach hinten verjüngender Kasten aus Setzkästen: oben, hinten, rechts, links übersät mit Schwarz-Weiß-Bildern von Brecht. Denkmäler? Denkzettel? Rechts am schwarzen Bühnenrand ein Ausriss: „Im Wesentlichen gebe ich nicht nach. Ich setze nur aus.“ Ganz hinten, auf einer schmalen Tür, leuchtet Schwarz auf Schwarz ein Porträt der jungen Fleißer hervor.

Plötzlich durchsticht ein Messer diese Tür, schneidet an der Silhouette entlang. Mit einem Trommelschlag bricht eine Tänzerin mitsamt dem papierenen Fleißer-Kopf durch die Tür. Schwarz angemalt von den Haaren bis zu den Zehen, nackt bis auf den Rock, ergeht sich Anna Hein in einem Pas de deux mit dem Tod. Ein Krankenbett wird hereingefahren: Im weißen Flügelhemd Bettina Storm als Marieluise Fleißer. Es ist der 15. Januar 1958. Nur wenige Tage nach dem Tod ihres Mannes Bepp Haindl erleidet Marieluise Fleißer einen Herzinfarkt.

Der mehrmonatige Aufenthalt der Dichterin im Krankenhaus ist Ausgangspunkt von Christoph Klimkes Stück – und zugleich ein Kunstgriff. Denn in dieser „Nahtoderfahrung“ lässt er die Fleißer erinnern – Skurriles, Alptraumhaftes, Begegnungen mit realen Menschen und Figuren aus ihrem Werk. Dabei tastet sich Klimke an Fleißers Biografie entlang. Assoziativ durchdringen sich Leben und Schreiben. Alles bekannt: Es geht vom „Fegefeuer“ bis zu den „Pionieren“, vom Stückskandal zu den Affären, von Draws-Tychsen zum Tabakhändler, von Brecht zu Brecht, vom Wortverlust zum Schreibverbot. Zitate aus den Stücken werden mit Sätzen aus Briefen, Erzählungen verwoben. Der Fleißer-Sound bleibt unverkennbar. Klimke hat die Inszenierung auch dramaturgisch (neben Donald Berkenhoff) weiter begleitet, immer wieder um-, neu-, dazugeschrieben. Doch der bloße Text ist nur ein Bruchteil dessen, was man auf der Bühne erlebt.

Denn Johann Kresnik hat aufbauend auf den Text Bilder von großer Dramatik geschaffen – bisweilen effekthascherisch als bombastische Männerfantasie, bisweilen in absurder Komik, bisweilen bemüht provokativ, aber in der Gesamtheit doch spannungsgeladen. Kresnik lässt vor allem Körper sprechen, seine Inszenierung folgt choreografischen Gesetzen, seine Schauspieler agieren als Ballettensemble. Zudem stellt Kresnik mit Tänzerin Anna Hein Bettina Storms Fleißer ein Alter Ego an die Seite. Anna Hein tanzt die wütenden, verführerischen, lebensgierigen Seiten der Fleißer genauso intensiv wie ihre Verlorenheit, ihre Zartheit, ihre Suche. Eine Sehnsuchtsfrau: Jedes Mal, wenn Anna Hein auftaucht, ist sie ein Ereignis. Energie pur. Schwarz wie ein Schatten. Rot wie ein Fanal.

Die Musik Deborah Wargons tut ein Übriges. Geige (Wargon) und Schlagzeug (Patrick Schimanski) schaffen Atmosphäre und Zeitsprünge, kommentieren, fantasieren, läuten Katharsis ein. Das ist selten gefällig, häufig nervenzerrend, oft hämmernd, sirrend, wispernd, bedrohlich – wie es sich eben anhört, wenn eine Axt durchs Nagelbrett streicht. Wirkungsvoll.

Und obwohl das alles vielleicht ziemlich düster und bedeutungsschwer klingt, steckt Kresniks Inszenierung doch auch voller Witz. Etwa, wenn er einen Brecht-Vorhang im Bordell einzieht, Fleißer-Drillinge im authentischen Fleißer-Karo-Kleid auf die Bühne schickt (formidable Kostüme: Erika Landertinger), den größenwahnsinnigen Draws-Tychsen mit einem Springteufelchen-Knall aus dem Bühnenhimmel stürzen lässt oder Brechts sexy Schreibmaschinen-Manufaktur auf Papierkothurnen aufmarschieren lässt. Bisweilen wird auch das Komische platt, das Provokante peinlich oder die Gewalt zum Selbstzweck. Aber die eindringlichen Bilder lassen das rasch verblassen. Etwa wenn die junge Theaterautorin sich nach der „Fegefeuer“-Premiere wie ein Artefakt aus der Provinz hinter Glas wähnt, ausgestellt, für alle sicht- und angreifbar. Wenn mehr und mehr Brecht-Porträts getilgt oder durch Fleißer-Bilder ersetzt werden. Oder zum Schluss, wenn Fleißers Sehnsucht größer, ihre Welt aber immer enger wird, das Schreiben Sucht und Verzweiflung zugleich ist, wenn die ersten Pflastersteine auf die „Nestbeschmutzerin“ fallen.

Der Erfolg des Abends ist auch eine Ensembleleistung: Neben Bettina Storm und Anna Hein überzeugen Ines Hollinger, Ingrid Cannonier, Olaf Danner, Enrico Spohn, Rolf Germeroth, Matthias Zajgier (gerade neu in Ingolstadt angekommen, aber schon bis auf den letzten Zentimeter Haut bekannt) und Ulrich Kielhorn durch hohe Konzentration, Kraft und Präzision. Es ist ein kühner, wilder, großspuriger, bildgewaltiger Abend, auf dem Fleißer draufsteht, aber vor allem Kresnik drinsteckt. Gleich zwei gute Gründe, um hinzugehen.