Ingolstadt
"Rassendiagnose: Zigeuner"

Ausstellung im Ingolstädter Schloss über den Völkermord an den Sinti und Roma

24.10.2017 | Stand 02.12.2020, 17:18 Uhr

Bei der Ankündigung der Ausstellung im Ingolstädter Neuen Schloss: Kulturreferent Gabriel Engert (l.), Ilona Roché (Arbeitskreis der Sinti und Roma) und Museumsleiter Ansgar Reiß. - Foto: Betz/Stadt Ingolstadt

Ingolstadt (DK) Die kleinen Mädchen stehen starr vor dem Fotografen. Tapfer halten sie sich an den Händen. Sonja und Senta Birkenfelder blicken einer ungewissen Zukunft entgegen. Auch ihre Gegenwart ist düster. Wenige Monate vor dieser Aufnahme, im Mai 1940, ist die Familie Birkenfelder mit ihren vier Kindern, darunter Sonja und Senta, aus Ludwigshafen in das polnische Getto Radom verschleppt worden. Dann verliert sich ihre Spur im Grau der Geschichte. Nur die kleine Sonja taucht noch einmal in den Quellen auf; als lapidare Notiz: In den fragmentarisch überlieferten Sterbebüchern des Konzentrationslagers Auschwitz ist vermerkt, dass das Mädchen dort am 2. Juni 1943 ums Leben gekommen ist.

Vermutlich sind alle Birkenfelders von Nazis und deren willigen Handlangern ermordet worden. Denn die Familie gehörte einer verfolgten Minderheit an: den Sinti und Roma. Aber so nannte sie keiner. Die meisten ihrer Mitbürger sagten schlicht "Zigeuner" - und das war noch die mildere Bezeichnung. Für Nationalsozialisten in ihrem Rassenwahnsinn waren Sinti und Roma nichts als "Untermenschen".

"Rassendiagnose: Zigeuner", lautete bürokratisch-eiskalt die Kategorisierung. Bis zu 500 000 Sinti und Roma, so schätzt man, wurden bis 1945 auf Befehl von Nationalsozialisten ermordet. Doch nachdem Hitlers "Drittes Reich" zusammengebrochen war, hörte die Diskriminierung der "Zigeuner" nicht etwa auf. In Polizeirevieren quer durch die Bundesrepublik erfassten Beamte die weiter als "fahrendes Volk" geschmähten Sinti auf erkennungsdienstlichen Karten; es waren die gleichen, mit denen schon im NS-Reich "Zigeuner" amtlich abgestempelt worden waren. Es bedurfte jahrzehntelanger unermüdlicher Anstrengungen der Sinti und Roma in Deutschland, bis ihnen zumindest annähernd so etwas wie gesellschaftliche Akzeptanz zuteilwurde. Doch bis heute leben in vielen Köpfen Klischees und Vorurteile fort.

Eine Wanderausstellung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma zeigt den Völkermord an dieser Minderheit anhand vieler Fotos, Dokumente, Texttafeln und (per Smartphone abrufbarer) Videos: von der Ausgrenzung und Entrechtung im Deutschen Reich bis zur systematischen Vernichtung im besetzten Europa, so die Kuratoren. Titel: "Rassendiagnose: Zigeuner. Der Völkermord an den Sinti und Roma und der lange Kampf um Anerkennung."

"Ein ziemlich schrecklicher, harte Titel. Und genau deshalb sehr treffend", sagt Ansgar Reiß, der Leiter des Bayerischen Armeemusems in Ingolstadt. Dort, im Neuen Schloss, ist die Schau von 26. Oktober bis 7. Januar zu sehen. "Ich finde es gut, dass man sich dazu entschlossen hat, diesen Titel zu wählen. Denn es geht um Ausgrenzung, Entrechtung und schließlich die systematische Ermordung einer Minderheit, die in ganz Europa und darüber hinaus verbreitet war." Diese "uralte Geschichte von den Zigeunern ist behaftet mit unglaublich vielen Vorurteilen", so Reiß bei der Ankündigung der Ausstellung. Das begann mit der Unterstellung, "die Zigeuner" seien alle Diebe und Zauberer und endet noch lange nicht mit dem Klischee, sie seien nicht sesshaft und deshalb ständig unterwegs gewesen. "Sinti und Roma hatten ein Zuhause, bekamen aber oft kein Wohnrecht. Sie waren unterwegs, um überleben zu können." Es ist ein Ziel der Ausstellung, solchen Vorstellungen entgegenzuwirken.

In Ingolstadt wird sie gemeinsam vom staatlichen Armeemuseum und dem städtischen Kulturreferat präsentiert. "Wir begrüßen es außerordentlich, dass wir das zeigen dürfen!", sagt Kulturreferent Gabriel Engert. Man habe sich schon "mit vielen Facetten der Erinnerungskultur beschäftigt, außer mit den Sinti und Roma und dem grauenvollen Verbrechen ihrer Verfolgung und Ermordung". Deshalb habe die Stadt "gern die Initiative ergriffen", als das Dokumentationszentrum der Sinti und Roma anbot, die Ausstellung nach Ingolstadt zu bringen. Das Thema sei auch deshalb so zentral, "weil es wegen der vielen Vorurteile bis in die Gegenwart führt".

Noch jemand freut sich, dass dieses düstere Kapitel der Geschichte beleuchtet wird: Ilona Roché, die Vorsitzende des Arbeitskreises Sinti und Roma in Ingolstadt. Ihre Mutter hat das KZ Auschwitz überlebt. "Sie lebt noch", erzählt sie. "Und es ist schön, dass meine Mutter auch diese Ausstellung noch erlebt!"