Ingolstadt
"Die Gesellschaft versucht, sich abzuschotten"

Debatte am Stadttheater Ingolstadt mit dem Soziologen Stephan Lessenich

28.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:13 Uhr

Wer zahlt den Preis für unseren Wohlstand? Der Soziologe Stephan Lessenich diskutiert am 3. Mai im Kleinen Haus. - Foto: privat

Ingolstadt (DK) "Wie wollen wir leben" hat das Stadttheater Ingolstadt als Motto über die aktuelle Spielzeit geschrieben. Und stellt diese Frage nicht nur in einzelnen Inszenierungen, sondern veranstaltet am Mittwoch, 3. Mai, auch eine Debatte, in der es um Werte und das Zusammenleben in einer Welt geht, in der antidemokratischer Populismus und Rassismus immer mehr um sich greifen. Auch der Münchner Soziologieprofessor Stefan Lessenich wird dann auf dem Podium sitzen. Er beschreibt in seinem aktuellen Buch "Neben uns die Sintflut" das soziale Ver-sagen unserer Weltordnung.

Herr Lessenich, das Thema lautet: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen". Vielleicht sollte man vorher klären: Was ist das richtige Leben - und was das falsche?

Stephan Lessenich: Das ist sicher nicht ganz einfach zu verallgemeinern. Aber man wird sagen können, dass ein falsches Leben ein solches ist, bei dem man gezwungen ist, durch die eigene Form der Lebensführung andere zu schädigen und die eigene Position nur zu Lasten anderer verbessern zu können. Als ein gutes Leben kann meiner Ansicht nach nur ein solches gelten, das potenziell auch alle anderen führen könnten. Man sollte das Konzept nicht individuell ausdeuten, sondern gesellschaftlich.

 

Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel "Neben uns die Sintflut". Darin schreiben Sie von einer Externalisierungsgesellschaft. Was ist das?

Lessenich: Das ist eine Gesellschaft, deren materielle Reproduktion darauf beruht, ihr "Außen" in ausbeuterischer Form in Anspruch zu nehmen: die Kosten der in ihr herrschenden Produktions- und Konsumweisen auszulagern und anderen aufzubürden. Je "entwickelter" die westlichen Industriegesellschaften wurden, um so mehr wurden sie zu Externalisierungsgesellschaften.

 

Sie schreiben von den "dunklen Seiten der westlichen Moderne". Können Sie ein paar Beispiele nennen?

Lessenich: Nun ja, leider sind die Beispiele Legion. Die westliche Moderne hat schon seit ihren kolonialen Frühzeiten auf Kosten von Land und Leuten anderswo gelebt - bis heute werden die für unsere Wirtschafts- und Lebensweise notwendigen Bodenschätze und Rohstoffe zu großen Teilen und im großen Stil in anderen Weltregionen "gefördert", häufig unter schlechten Arbeitsbedingungen und mit unwiderruflichen Naturzerstörungen. Zur dunklen Seite gehört aber auch, dass wir Freiheiten, die wir für selbstverständlich und verteidigenswert halten, anderen nicht einräumen wollen. Unser Lebensstil, auf den wir so viel halten, soll allein uns vorbehalten bleiben.

 

Wann haben wir eigentlich angefangen, unsere Probleme auszulagern? Und warum hindert uns keiner daran?

Lessenich: Man kann sagen, dass das mit der Entwicklung eines kapitalistischen Weltsystems begann - also vor 500 Jahren. Ganz massiv aber dann mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, als der hiesige Energie- und Ressourcenbedarf ins Unendliche zu steigen begann. Dass dies so lange und bis heute fortzuführen war, liegt an den globalen Machtverhältnissen: Wir können es uns als Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes leisten, so zu leben, wie wir es tun.

 

Eigentlich wissen wir ja alle, dass wir über unsere Verhältnisse, genauer gesagt über die Verhältnisse der anderen leben. Warum ändern wir unser Verhalten dann nicht?

Lessenich: Weil wir alle, oder sagen wir die allermeisten hierzulande, bei einer wirklichen Veränderung mit einem radikalen Wandel unserer Lebensverhältnisse und mit materiellen Einbußen zu rechnen hätten - mit weniger statt mit immer mehr. Und weil es natürlich machtvolle ökonomische und politische Akteure gibt, die schon gar kein Interesse an einer solchen Veränderung haben. Letztlich leben wir da alle in einem stillschweigenden Einvernehmen: Lasst uns mit diesen Fragen in Ruhe.

 

Kann der Einzelne etwas bewirken? Und wie könnte ich anfangen? Mit Konsumverzicht?

Lessenich: Ja, sicher. Es gibt und gäbe da individuell einiges zu tun: faire Produkte kaufen, weniger kaufen, den schlechter Ge-stellten helfen. Aber an den Strukturen, die die Externalisierung tragen, wird man nur durch politisches Engagement etwas ändern können. Und das heißt immer auch durch gemeinsames, kollektives Handeln.

 

Wie sieht Ihre Prognose aus, wenn wir alle so weitermachen wie bisher? Was wird passieren - in 10, 20, 50 Jahren?

Lessenich: Ich bin kein Zukunftsforscher. Aber wir können ja sehen, was in den letzten zehn Jahren passiert ist: Obwohl wir auf unser Umweltbewusstsein stolz sind und die sogenannte Energiewende als Vorbild für andere preisen, gehen praktisch alle Verbrauchsdaten in Deutschland weiter steil nach oben. Obwohl wir uns als offene Gesellschaft verstehen, versuchen wir uns gegen die Folgen, die unsere Produktions- und Konsumweisen anderswo zeitigen, abzuschotten - man denke nur an das europäische Grenzregime. Wenn wir so weitermachen, dann werden wir zunehmend Gewalt einsetzen müssen, um uns vor diesen Folgen zu schützen. Ich denke, so viel ist sicher.

 

Die Fragen stellte Anja Witzke.

 

 

ZUR PERSON

Stephan Lessenich, 1965 in Stuttgart geboren, lehrt am Institut für Soziologie der LMU München und ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Seine Arbeitsgebiete sind die politische Soziologie sozialer Ungleichheit, vergleichende Makrosoziologie, Wohlfahrtsstaatsforschung, Kapitalismustheorie und Alterssoziologie. Sein Buch "Neben uns die Sintflut" ist im Hanser-Verlag erschienen und kostet 20 Euro.