Ingolstadt
Die Brüchigkeit der Welt

Premiere am Stadttheater Ingolstadt: Ayad Akhtars Stück "Geächtet" liefert viel Diskussionsstoff und wird vom Publikum gefeiert

28.02.2016 | Stand 02.12.2020, 20:09 Uhr

Vorbereitungen für ein denkwürdiges Dinner: Der Abend von Amir (Ali Berber), Isaak (Matthias Zajgier), Jory (Patricia Coridun) und Emily (Yael Ehrenkönig) wird mit einem Eklat enden. Markus Heinzelmann inszeniert "Geächtet" im Großen Haus. Am Freitag war Premiere. - Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Am Anfang: Konfrontationstheater im Breitwandformat. Fünf Ledersessel vor einer Einbauschrankwand samt Kühlelement mit Eiswürfelspender in dunkler, reduzierter Eleganz. An der Bühnenrampe zwei Mikrofonständer. Eigentlich ein Setting für eine Podiumsdiskussion. Und so lässt Regisseur Markus Heinzelmann Ayad Akhtars Stück "Geächtet" auch beginnen. Alle Darsteller betreten die Bühne, setzen sich mit unbewegten Mienen - agieren als Repräsentanten unterschiedlicher Positionen (bezüglich Religion, Herkunft, politischer Einstellung). Die erste der vier Szenen, die insgesamt ein gutes halbes Jahr umfassen, ein Dialog zwischen Emily und Amir - später kommt sein Neffe Hussein dazu -, wird ins Publikum gesprochen. Schaufensterreden statt Familiengeplauder. Will heißen: Alles Private ist politisch. Eine erste Irritation.

Eine zweite: die Shiva-Statue inmitten des Podiums. Denn Shiva ist im Hinduismus der Gott der Gegensätze. Und weil Shiva zumindest in der westlichen Interpretation die Rolle des Weltzerstörers zugeschrieben wird, lässt das für den Abend nichts Gutes erahnen.

Dabei lässt Akhtar sein pulitzerpreisgekröntes Stück im Strickmuster eines klassischen Konversationsstücks beginnen: Zwei New Yorker Upperclass-Paare treffen sich zum Dinner: Amir, ein in den USA geborener Muslim mit pakistanischen Wurzeln, hat dem Islam abgeschworen und auch gleich seinen Nachnamen geändert, um seine Karriere in einer erfolgreichen jüdischen Anwaltskanzlei nicht zu gefährden. Seine Frau Emily ist blond, reich, weiß, protestantisch und durch und durch amerikanisch, dazu eine vielversprechende Malerin, die sich aber ausgerechnet den Islam als künstlerische Inspirationsquelle auserkoren hat. Emily setzt ihre Hoffnungen auf Isaak, Kurator am renommierten Whitney Museum - und Jude. Seine afroamerikanische Frau Jory arbeitet in derselben Kanzlei wie Amir.

Diese vier also planen ein Abendessen, bei dem jeder eigene Interessen verfolgt. Isaac verspricht sich von Emilys künstlerischem Ansatz ein lukratives Vermarktungslabel. Sie "erkauft" sich die Teilnahme an seiner Ausstellung mit einer Affäre. Amir sucht die berufliche Allianz mit Jory - nicht wissend, dass sie ihn in der Kanzlei längst ausgebootet hat. Denn der Aufsteiger Amir, der schnelle Denker und knallharte Jurist mit den blütenweißen 600-Dollar-Hemden und der "richtigen" Ehefrau, hat einen Fehler gemacht. Er hat sich dazu hinreißen lassen, seinem Neffen zu helfen und dessen unter Terrorverdacht stehenden Imam vor Gericht zu unterstützen. Eine kleine Notiz erscheint darüber in der "Times" - und Amir ist beruflich erledigt.

Doch das kommt alles erst peu à peu ans Licht. Beim Essen wird zunächst gezwungen freundlich geplaudert, dann hitzig diskutiert - über Religion und Herkunft, Kunst und Kultur, Integration und Identität, Vorurteile und Rassismus, Liberalität und Paranoia, das gute Leben und die Suche nach dem besseren. Akhtars Stück steht dabei mit seinen pointierten, durchaus komischen, aber vor allem explosiven Dialogen in der Tradition großer Theaterschlachten wie Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" oder Yasmina Rezas "Gott des Gemetzels", geht aber noch einen Schritt weiter, indem er die Nach-9/11-Hysterie mit der aktuellen politischen Hilflosigkeit mischt - und in dieser Versuchsanordnung vorführt, wie dünn der Firnis der ach so aufgeklärten Gesellschaft ist, wie brüchig das System.

In einem Interview, das im Programmheft abgedruckt ist, sagt Akhtar, dass er Reaktionen für sein Stück von allen Seiten bekomme - Zustimmung und Ablehnung, von rechts, von links, von Muslimen, von Juden. Das spricht zum einen dafür, dass er einen neuralgischen Punkt getroffen hat, zum anderen auch dafür, wie komplex das Thema ist und wie viele Identifikationsmöglichkeiten es bereithält.

Markus Heinzelmann setzt das mit seinem Team (Bühne: Gregor Wickert, Musik: Christine Hasler, Kostüm: Annemarie Bulla) in seiner Ingolstädter Inszenierung im Großen Haus kongenial um. Ein Stück weit begleitet der Zuschauer jede der Figuren in ihrer Argumentation, bezieht Position für den einen, gegen den anderen. Immer ist er gefordert, nach- und umzudenken. Die Podiumsdiskussion-Szenerie des Anfangs ist im Laufe des Abends immer mehr dem Spielerischen gewichen. Und die Schauspieler vermeiden mit Grandezza und Präzision alles trocken Thesenhafte und liefern sich bissig-bizarre Wortgefechte, die rasch in einem "Ihr"- und "Wir"-Antagonismus kulminieren - bis die Situation eskaliert.

Ali Berber als Amir (die interessanteste, da zerrissenste Figur), Yael Ehrenkönig als Emily, Matthias Zajgier als Isaak, Patricia Coridun als Jory, Bela Milan Uhrlau als Neffe Hussein - sie alle überzeugen in ihren Rollen. Beeindruckend ist vor allem, wie exakt sie die Beziehungen zu zeichnen vermögen, das Mächteverhältnis innerhalb der Paare, die intellektuellen Fallhöhen, die emotionalen Verstrickungen, den Snobismus, die trostlose Zweckmäßigkeit der Verbindung. Spannend ist das, wie Allianzen geschmiedet und Loyalitäten aufgekündigt werden. Und spannend ist auch, wie Regisseur Heinzelmann die persönliche und gesellschaftliche Instabilität auf der Bühne umsetzt. Er unterwandert die brisante Auseinandersetzung mit Komik. Und führt - hier ein kaputter Griff, dort ein explodierender Eiswürfelspender - das Poröse der schönen, aufgeklärten Welt vor Augen.

Nach gut 100 Minuten gibt es dafür Bravorufe und langen Applaus. Akhtars Stück kommt zur rechten Zeit. Denn: Denken lohnt immer.

Weitere Vorstellungen am 3., 21. und 23. März, sowie am 1., 16. und 17. April. Karten unter Telefon (08 41) 30 54 72 00.