Ingolstadt
Alles Private ist politisch

Jubel für "In meinem Alter rauche ich immer noch heimlich" am Stadttheater Ingolstadt und ein starkes Frauenteam

16.05.2016 | Stand 02.12.2020, 19:48 Uhr

Im Hamam sind sie unter sich: arabische Frauen, die sonst keine Stimme haben - vor allem keine öffentliche. Die algerische Autorin Rayhana hat darüber ein spannendes Stück geschrieben. - Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) "Euer Islam ist nicht unser Islam!", schreit Nadia wieder und wieder. Zuvor hat sie Bauch und Brüste entblößt - um den anderen das vernarbte Gewebe an ihrem Oberkörper zu zeigen: Fanatische Islamisten, Mitstudenten, haben sie mit Schwefelsäure übergossen - "mit der Begründung, dass ich einen Rock trug und nicht ihren Vorhang". "Du solltest den Schleier tragen, Nadia, er würde dich beschützen", rät Zaya. "Hinter euren Schleiern und Bärten seid ihr nur Mörder", giftet Nadia zurück. Und dann tobt Yael Ehrenkönig in der Rolle der Nadia zornig und mit nacktem Brüsten über die Bühne und durchs Publikum und skandiert: "Euer Islam ist nicht unser Islam."

Es ist eine Schlüsselszene in dem Stück "In meinem Alter rauche ich immer noch heimlich", das am Freitagabend im Kleinen Haus des Stadttheaters Ingolstadt seine deutschsprachige Erstaufführung feierte. Denn davon erzählt die in Algerien geborene und in Paris lebende Autorin Rayhana: Dass es den Islam nicht gibt. Sondern nur Individuen, die ihn leben - zwischen Anpassung, Fundamentalismus, Resignation und Rebellion.

Es gibt viele eindrucksvolle Szenen an diesem Theaterabend, der in einem algerischen Hamam spielt, einem öffentlichen Dampfbad also, in dem neun Frauen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten aufeinandertreffen. Ein geschützter Raum inmitten einer patriarchalischen, religiös fanatisierten Welt. Ein intimer dazu. Denn umgeben von dunklen Wänden, feuchtheißen Dämpfen und tropfendem Wasser folgt der körperlichen Nacktheit der Frauen rasch eine seelische. Hier - unter sich - werden Geheimnisse enthüllt. Man spricht über den Alltag, über Sehnsüchte, über Sex, über Männer. Ehemänner, Geliebte, Väter, Söhne. Und auch wenn Masseurin Fatima sagt: "Keine Politik im Hamam", so ist doch klar: Das Private ist immer politisch. In dieser arabischen Gesellschaft umso mehr. Während hier drinnen der Geschlechterkampf tobt, herrscht draußen - man hört die Detonationen - der reale Krieg. Was Fatima den anderen Frauen verschweigt: Kurz vor ihrem Eintreffen hat Myriam im Hamam Zuflucht gesucht. Die 16-Jährige ist unverheiratet und schwanger, ihr Bruder will sie töten. Am Ende wird sie ihr Baby zur Welt bringen - mit Hilfe der anderen Frauen. Trotzdem hat Rayhana alles andere als ein Happy End vorgesehen.

Die Autorin selbst schreibt unter Pseudonym. In ihrem Heimatland wurde sie von Islamisten mit dem Tode bedroht, in Paris entging sie nur knapp einem Brandanschlag auf offener Straße. Allein das ein Indiz dafür, welch subversive Sprengkraft dem Stück innewohnt, wie virulent die Themen sind, die es verhandelt. Denn aus der Perspektive der neun Frauen werden Gesellschaftssystem, männliche Gewalt und die Macht der Religion kritisiert. Trotz der existenziellen Themen hat Rayhana dabei so etwas wie eine Komödie geschrieben. Doch Leichtigkeit und wahnwitzige Dialoge werden mit archaischer Wucht durchbrochen, die Wirklichkeit des Terrors ist stets präsent. Regisseurin Brit Bartkowiak schafft eine perfekte Atmosphäre (Bühne: Nikolaus Frinke, Kostüme: Carolin Schogs, Musik: Joe Masi), setzt die waghalsige Komik mit größter Präzision und Virtuosität um und verleiht jeder Figur ein individuelles Profil - von der ungewollt kinderlosen Lehrerin Kaltoum über die geschiedene Studentin Nadia und die naive Träumerin Samia bis zur religiös eifernden Zaya. Und weil ihr darüber hinaus eine fabelhafte Schauspielertruppe zur Verfügung steht, ist der Abend nicht nur ein kluger, berührender Beitrag zur aktuellen politisch-gesellschaftlichen Situation, sondern auch reinstes theatrales Vergnügen.

Allein wie Manuela Brugger als Masseuse Fatima, Mutter von acht Kindern und längst aller Illusionen beraubt, in ihrem Hamam wirkt, ist umwerfend. Sie geriert sich bisweilen wie ein Mann (vor allem in der Rohheit der Sprache), ist couragiert, gewieft, spöttisch - obgleich selbst Opfer: ein beeindruckendes Spiel. Oder Chris Nonnasts schaurige Erinnerungen an die Vergewaltigung der zehnjährigen Louisa - ein Moment atemloser Stille. Yael Ehrenkönigs rebellische Nadia, Kathrin Beckers altehrwürdige Aïcha, Sandra Schreibers fundamentalistische Zaya, Teresa Trauths aufgeklärte, warmherzige Kaltoum, Mara Amritas verzweifelte Myriam, Victoria Voss' affektierte Madame Mouni und vor allem Mira Fajfers blauäugige Samia, die sich von der elterlichen Abhängigkeit so gerne in eine eheliche stürzen würde: Jede Figur hat ihren eigenen Blickwinkel, aber alle Schauspielerinnen agieren in ihren Rollen so facettenreich, so kämpferisch, so sinnlich, mit solcher Tiefe und Lebendigkeit, dass in der Summe ein vielfältiges, vielstimmiges, farbenprächtiges Bild der heutigen algerischen Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne, Hoffnung und Ohnmacht, Liebe und Schmerz entsteht.

Was für eine starke Truppe! Was für ein kühnes Stück! Was für eine eindrucksvolle Inszenierung! Nach knapp zwei Stun-den gibt es dafür begeisterten Applaus. Unbedingt anschauen!

Die nächsten Vorstellungen sind am 18., 19., 24., 25., 30. und 31. Mai; Kartentelefon (08 41) 305 47 200. Am Sonntag, 5. Juni, gibt es um 11 Uhr im Foyer des Stadttheaters ein Gespräch mit der Autorin Rayhana.