Die SPD-Politikerin Natascha Kohnen über: Bücher

07.04.2017 | Stand 02.12.2020, 18:20 Uhr
Die Bibliothek des Literaturhauses in München ist ein wunderbarer Platz für Natascha
Kohnen – denn von Büchern bekommt sie nie genug. −Foto: Oliver Bodmer

Natascha Kohnen wurde 1967 in München geboren und ist dort auch aufgewachsen. Nach ihrem Biologiestudium in Regensburg absolvierte sie ein Verlags-Volontariat und arbeitete anschließend als Lektorin im Fachbereich Naturwissenschaften.

Seit 2001 ist Kohnen Mitglied der SPD, seit 2008 ist sie Abgeordnete des Bayerischen Landtags. Derzeit ist sie Generalsekretärin der Bayern-SPD und bewirbt sich auch um deren Vorsitz. Natascha Kohnen hat zwei Kinder und lebt mit ihrer Familie im Landkreis München.

„Seitenblättern ist etwas, das nie aufhören darf.“ (Natascha Kohnen)
 

Frau Kohnen, welche Bücher liegen auf Ihrem Nachtkästchen?

Natascha Kohnen: Ich habe ein Tischchen, auf dem liegen die Bücher überall. Momentan sind es vier oder fünf. Bei einem komme ich gerade nicht weiter, weil es mich emotional so mitgenommen hat, dass ich es weglegen musste: „Der Distelfink“ von Donna Tartt. Das ist die Geschichte von einem Jungen, der seine Mutter verliert und auch fast sich selbst. Aber ich werde es zu Ende lesen, weil ich die Schriftstellerin für eine der ganz Großen halte. Für den „Distelfink“ hat sie auch den Pulitzerpreis gewonnen. Jetzt bin ich umgestiegen auf „Meine geniale Freundin“ von Elena Ferrante, das ist diese sogenannte Unbekannte, der man versucht, auf die Schliche zu kommen. Warum lassen wir sie nicht einfach in Ruhe schreiben?
 

Können Sie mehrere Bücher gleichzeitig lesen?

Kohnen: Eigentlich muss erst eins zu Ende sein. Mir geht es ja so wie wahrscheinlich vielen: Wenn du anfängst zu lesen, musst du irgendwann ins Buch hineingezogen werden. Und wenn das passiert, kannst du es gar nicht mehr weglegen, und bist auch gut beraten, es nicht zu tun. Dann bist du in der Geschichte, du lebst darin. Und wahrscheinlich war es dieses Erlebnis, das mich als Kind schon angefixt hat. 

Sie haben als Kind schon gern gelesen?

Kohnen: Ja, dank meiner Eltern, die mir immer Bücher hingelegt und natürlich auch vorgelesen haben. In der ersten Klasse war ich allerdings trickreich: Ich habe nicht lesen gelernt. Ich habe die Geschichten auswendig gelernt und meiner Mutter vorgegaukelt, ich könne lesen. An Weihnachten ist sie mir aber draufgekommen. Das war wahrscheinlich Bequemlichkeit oder das wundervolle Vorlesen. Ich habe einfach so wahnsinnig gern zugehört! Aber dann hat sie mir das Lesen beigebracht, und seitdem läuft’s!

Was haben Sie vorgelesen bekommen?

Kohnen: Von meinem Vater leidenschaftlich gern Karl May. Das war wirklich schön. Und natürlich typische Kinderbücher aus der Zeit damals. Ich bin ja in München aufgewachsen, Ali Mitgutsch hat nicht weit weg gewohnt, der kam zu unseren Straßenfesten. Eigentlich war ich immer umgeben von Büchern.

Sie sagen, dass man in ein Buch hineingezogen werden muss. Wie erleben Sie das?

Kohnen: Dass du nicht mehr aufhören kannst. In dem Moment, wo dich der Strudel packt, der dich reinzieht ins Buch, merkst du nicht mehr, wie du die Seiten umblätterst. Und wenn du dann doch irgendwann müde wirst oder aufhören musst, dann hast du die Geschichte in dir.
 

Es gibt aber sicher auch Bücher, bei denen das nicht passiert, oder?

Kohnen: Genau. Die lege ich weg.

Sie lesen also nicht alles zu Ende, was Sie angefangen haben?

Kohnen: Nein. Ich habe etliche solcher Bücher im Regal. Es kann aber auch manchmal sein, dass sie einfach jetzt noch nichts für mich sind.

Aber warum stehen die dann in Ihrem Bücherregal?

Kohnen: Ich kann Bücher nicht wegwerfen. Für nichts in der Welt. Nicht dass ich ein Messie wäre – aber das geht nicht. Die landen irgendwann auf dem Speicher, und wenn meine Kinder den leeren, werden sie eine Menge Bücher finden. Ich bin ausgebildete Lektorin und habe lange Jahre als Lektorin im Verlag gearbeitet, da hat mich die Makulatur immer geschmerzt. Festzulegen, wie viele Bücher man vernichten muss, weil sie im Lager zu viel kosten, das war immer ein schwerer Moment.

Haben Sie schon immer gewusst, dass Sie beruflich mit Büchern zu tun haben wollen?

Kohnen: Eigentlich nicht. In der Oberstufe habe ich einen sehr guten Biologielehrer gehabt, also habe ich Bio studiert. Das war toll, ich möchte es nicht missen. Aber danach wusste ich nicht, was ich machen soll. Also habe ich Blindbewerbungen an Verlage geschickt. Und siehe da, ich habe ein Volontariat bekommen und wurde Lektorin. So war ich praktisch aus Versehen da, wo ich immer hinwollte. Der Beruf des Lektors ist einer der schönsten, die es gibt. Weil du am Ende ein Buch hast, das du anfassen kannst. Ich habe keine Literatur gemacht, sondern Universitäts- und Schulbücher, aber es waren Bücher. Die duften, wunderbar. Ein Raum, in dem Bücher sind, riecht anders. 

Wenn man den ganzen Tag beruflich liest, kann man dann überhaupt privat auch noch lesen?

Kohnen: Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Nein, zum Hals rausgehängt ist mir das Lesen nicht. Aber das kann auch daran liegen, dass das eine eher wissenschaftliche Bücher waren und das andere, die Literatur, das sind Geschichten, Träume, Philosophie. Aber wie meine beiden Kinder klein waren, habe ich weniger privat gelesen. Da hast du abends keinen Nerv mehr.

Als Politikerin haben Sie einen stressigen Job, sind viel unterwegs. Haben Sie überhaupt Zeit zu lesen?

Kohnen: Ja, gerade weil ich viel unterwegs bin. Ich lese sehr gern nach Veranstaltungen, wenn ich länger im Zug unterwegs bin oder im Auto, wenn mich jemand fährt, da kann ich mich wirklich zurücklehnen und abtauchen.
 

Sie verreisen auch nie ohne Buch?

Kohnen: Nein, niemals. Aber vergangenes Jahr habe ich mit meiner Tochter eine Fernreise gemacht, da musste ich mir allen Ernstes einen e-Book-Reader kaufen, wegen des Gewichts. Das fiel mir wirklich schwer. Weil ich finde, dass Seitenblättern etwas ist, das nie aufhören darf. Der Reader war wirklich sinnvoll, aber zu Hause ist es gleich in der Schublade gelandet. 

Welches ist das schlechteste Buch, das Sie je gelesen haben?

Kohnen: Ich würde mir nichts kaufen, von dem ich davon ausgehe, dass es nicht zu mir passt. Ich würde deshalb auch nie ein Buch verurteilen und sagen: „Oh, ist das schlecht“, sondern: „Es passt nicht zu mir“. Es gibt gewisse Dinge, die mich einfach nicht interessieren, Rosamunde Pilcher zum Beispiel. Aber ich bin nicht wie Marcel Reich-Ranicki, der immer gerufen hat: „Schund!“

Haben Sie einen Lieblingsautor?

Kohnen: Das ist Henning Mankell, definitiv. Ich habe wie die meisten angefangen mit seinen Krimis um Kommissar Wallander, dann habe ich seine Bücher aus Afrika gelesen, und jetzt seine letzten beiden. Dazu kam, dass ich eine wunderbare Lesung erlebt habe, die werde ich nie vergessen. Ich wusste gar nicht, dass Mankell selbst auch da war. Eine Kulturredakteurin hat ein Gespräch mit ihm geführt, und er war so unglaublich schlagfertig und offen. Als ich erfahren habe, dass er todkrank ist, war ich geschockt. Sein letztes Buch heißt „Treibsand“, ein hochpolitisches Buch, fantastisch. Mankell ist mein männlicher Favorit.

Und der weibliche?

Kohnen: Das ist Zsuzsa Bánk, sie hat „Die hellen Tage“ geschrieben oder, was ich noch mehr empfehlen könnte, „Der Schwimmer“. Beides sind wunderbare Bücher aus der Welt, aus der sie kommt, aus Ungarn. Da setzt der Strudel nach zwei, drei Seiten ein und du kommst nicht mehr raus. Und du bist total traurig, wenn die Bücher enden. 

Was zählt noch zu Ihren Lieblingen?

Kohnen: „Accabadora“ von Michela Murgia. Es geht um ein Dorf auf Sardinien, und um ein Mädchen, das dort aufwächst. Fantastisch. Wir waren früher sehr oft auf Sardinien, weil meine Eltern dort ein Ferienhaus gebaut haben, als ich ganz klein war. Da gab es keinen Strom, kein Wasser, wirklich ursprünglich. Dann: Arno Geiger, „Alles über Sally“. Der schreibt in einer Sprache, die haut dich um. Und „Drei starke Frauen“ von Marie NDiaye, das kann ich jedem empfehlen, der über Frauenrechte und Flüchtlinge lesen will. Da kommen einem beim Lesen die Tränen. Und danach hat man ein anderes Weltbild. Das passiert nicht oft. 

Manche Bücher haben also eine durchschlagende Wirkung auf Sie?

Kohnen: Mein Vater hat manchmal einen tollen Satz gesagt: „Ich beneide dich darum, dass du das noch nicht kennst“, und hat mir dann ein Buch gegeben. Er wusste genau, was für eine Freude es machen kann, das zu lesen. Eigentlich ist es nur schwarze Schrift auf weißem Papier. Aber daraus entstehen Bilder. Und wenn ein Autor es schafft, dass Bilder im Kopf des Lesers entstehen, dann hat er’s geschafft.

Das Gespräch führte Susanne Hagenmaier.