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"Ethische Fragen werden immer dringlicher"

28.12.2017 | Stand 02.12.2020, 17:01 Uhr

Wir brauchen einen reflektierten Fortschritt, sagt der TV-Moderator und Wissenschaftsautor Ranga Yogeshwar. In seinem neuen Buch "Nächste Ausfahrt Zukunft" beschreibt er den epochalen Wandel, in dem sich unsere Gesellschaft gerade befindet.

Herr Yogeshwar, die Zukunftsforschung der vergangenen Jahrzehnte ist eine extreme Enttäuschung. Fast alle Vorhersagen gingen fehl, wichtige Entwicklungen wie das Internet oder das Smartphone hat kein Mensch erwartet. Warum ist Zukunftsforschung eigentlich so unzulänglich?

Ranga Yogeshwar: Wir blicken mit alten Augen auf die Zukunft. In der Zukunftsforschung merkt man, dass sogar Experten in ihrem eigenen Bereich bei Vorhersagen völlig versagen. In der Computer-Industrie gibt es dafür gute Beispiele. Der Präsident von Digital Equipment Corporation (DEC) sagte noch in den 70er-Jahren: Es gibt keinen Grund für einen Privatmann, Computer zu besitzen. Man versteht diese Aussage, weil er in seinen Kategorien natürlich eine bestimmte Vorstellung von Computern hatte. Das waren riesige Schränke, die in irgendwelchen Laboren standen. Das Extrapolieren des Fortschritts ist schwierig.

 

Dennoch haben Sie sich entschlossen, ein Buch über die Zukunft zu schreiben.

Yogeshwar: Ein Motiv für mein Buch ist, dass ich als Wissenschaftsjournalist oft Einblick in Forschungslabore erhalte und so mitbekomme, woran jetzt gerade gearbeitet wird. Was man da sieht, ist ein Mosaik von Entwicklungen, und das baue ich zu einem Bild zusammen, das zeigt, was in absehbarer Zeit zu erwarten ist. Was mir dabei auffällt, ist, dass es nicht einen Fortschritt gibt, der sich auf einen einzelnen Bereich beschränkt, sondern sich gegenseitig verstärkt und beschleunigt. Ein Beispiel: Die Fortschritte im Bereich der Informationstechnik und die Miniaturisierung der Sensoren haben enorme Auswirkungen auf das Feld der Medizin.

 

Welche technischen Entwicklungen werden unser Leben in den nächsten Jahren besonders stark verändern?

Yogeshwar: Der Fortschritt ist so schnell und stark, dass er in Kürze unser Leben dramatisch verändern wird. Das betrifft Entwicklungen im Bereich der autonomen Fahrzeuge, die das Auto, wie wir es heute kennen, möglicherweise obsolet machen; oder Entwicklungen im Bereich der Automation, die die Arbeit als solche teilweise überflüssig machen, oder die Entwicklungen im Bereich künstlicher Intelligenz, die in den nächsten Jahren viele Bereiche erobern werden, von der Medizin bis zum Auslesen von Daten jedes Bürgers. Ethische Fragen werden da immer dringlicher. Es geht dann nicht mehr nur um Technik, sondern dieser Fortschritt verändert unsere Gesellschaft, ja uns selbst so sehr, dass wir unbedingt eine Debatte darüber brauchen.

 

Müssen wir also Angst vor der Zukunft haben?

Yogeshwar: Die Technik vermag unsere Welt sehr viel besser oder sehr viel schlechter zu machen. Wenn wir das Rad so weiter laufen lassen, werden Konzerne wie Google oder Amazon einen gewaltigen Machtzuwachs erhalten und sogar zu einer Gefahr für die Demokratien werden. Oder: Wenn die Arbeitswelt weiter revolutioniert wird, kommen wir an einen Punkt, an dem das klassische Konzept von Arbeit zusammenbricht. Wir werden möglicherweise beim Fortschritt viele Gewinner, aber noch deutlich mehr Verlierer haben. Auf der anderen Seite gibt es auch Chancen, weil zum Beispiel die Medizin wohl bald in der Lage sein wird, die Lebensqualität weiter zu verbessern und das Leben selbst beträchtlich zu verlängern.

 

Wie sollen wir dann mit den Gefahren umgehen?

Yogeshwar: Wandel verunsichert unsere Gesellschaft. Ich greife einmal ein Beispiel auf: die Medien. Was wir da erleben, ist der Übergang der Massenmedien zu den Medien der Massen. Wir wissen alle, dass soziale Netzwerke wie Facebook völlig neue Phänomene offenbaren wie Echokammern. In der Folge werden wir mit Dingen konfrontiert wie Fake News. Die Fließrichtung der Medien hat sich über Nacht umgekehrt. Es ist heute so, dass eine Twitter-Nachricht große Berichte im Fernsehen und in Zeitungen auslöst. Die Zukunft der traditionellen Medien an sich ist zudem infrage gestellt. Es gibt immer mehr Zeitungsverlage, die existenziell bedroht sind. Es gibt einzelne Individuen, die so viele Follower haben, dass sie eigentlich Massenmedien sind. Aber sie unterliegen nicht denselben Gesetzen. Hier müssen Regelungen gefunden werden, sonst destabilisieren wir die Demokratie.

 

Aber eigentlich sollten wir sehr optimistisch sein. Es scheint inzwischen, dass die drei Grundübel unserer Geschichte, Hunger, Krieg und Krankheit, bald weitgehend überwunden sind. Gehen wir einer grandiosen Zukunft entgegen?

Yogeshwar: Es gibt Grund für Optimismus. Aber wir müssen die Zukunft gemeinsam gestalten und dürfen nicht zu bloßen Konsumenten des Fortschritts werden. Unser gemeinsames Interesse sollte das Allgemeinwohl sein. Dazu brauchen wir neue Regeln. Das ist wie mit den ersten Automobilen, die vor über hundert Jahren auf den Markt kamen. Damals gab es auch keine Verkehrsordnung und keine Fußgängerampeln. In ähnlicher Weise, aber sehr viel breiter, müssen wir heute die Debatte um die Zukunft, um Veränderungen, Konventionen, Regeln angehen.

 

Die Menschen werden immer älter. Verkraften sie überhaupt einen so schnellen Wandel der Welt?

Yogeshwar: Ja und nein. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Das Smartphone kam erst vor zehn Jahren auf den Markt. Und dennoch gibt es auch ältere Menschen, die heute ein Smartphone besitzen. D. h. man kann nicht sagen, alles, was neu ist, kann ein älterer Mensch grundsätzlich nicht nutzen. Aber es geht darum, dem Tempo standzuhalten, wir müssen dafür sorgen, dass die Stabilität einer Gesellschaft gewahrt wird. Wir können in der digitalen Welt gerade eine Tendenz zur Monopolisierung beobachten. Das widerspricht den Grundsätzen der Marktwirtschaft, die darauf beruht, dass es Konkurrenz gibt.

 

Sie beziehen sich da auf Konzerne wie Amazon, Google oder Microsoft, die in ihrem jeweiligen Bereich marktbeherrschend sind.

Yogeshwar: Ja. Auf der anderen Seite dringt die digitale Welt in alle Lebensbereiche vor, sodass neue Abhängigkeiten entstehen. Und die müssen sehr gut gesellschaftlich reflektiert werden. Google macht zweifellos auch großartige Dinge. Nur müssen diese Bestrebungen gesellschaftlich eingebettet werden. Das Internet bietet auch tolle Möglichkeiten der Gemeinsamkeit - etwa Wikipedia, ein Lexikon, das von allen gestaltet werden kann. Aber auf der anderen Seite haben wir eine hart marktwirtschaftlich operierende Internetwirtschaft, die extrem schnell wächst.

 

Im Moment steckt die Politik fest, eine Regierungsbildung rückt in die Ferne ...

Yogeshwar: ... Aus meiner Sicht ist auch das eine Konsequenz des Wandels. Mich irritiert allerdings, dass die Politik das nicht einmal offen ausspricht. Die Fragmentierung, die wir heute im Bereich der Medien erleben, gibt es auch bei den großen Volksparteien, die allmählich verschwinden. In Ländern wie Frankreich haben sich die großen Volksparteien sogar aufgelöst. Vor dieser Herausforderung müssen wir Politik noch einmal völlig neu denken. Was man jetzt versucht, ist, Koalitionen zu schmieden auf der Basis der alten Kategorien. Man begreift dabei nicht, dass die Welt sich wirklich verändert hat. Neuwahlen werden daran auch nichts ändern und keine Eindeutigkeiten schaffen. Man muss begreifen, dass das gesamte System problematisch geworden ist.

 

Sind unsere Politiker, ist unser politisches System also noch in der Lage, den immer schnelleren Wandel zu organisieren? Oder sind autoritäre Staaten wie China dazu besser in der Lage?

Yogeshwar: Deutschland hatte viele tolle Jahre und großen wirtschaftlichen Erfolg. Das kann aber auch dazu führen, dass man träge wird. Schauen Sie sich die Automobilindustrie an, die sich gar nicht vorstellen kann, dass sie vielleicht obsolet wird. Man versucht, einfach nur das bisherige Erfolgsrezept weiterzuführen. Da fällt es schwerer, das Karussell anzuhalten und in eine neue Richtung zu drehen, als bei Ländern wie China, die bisher diesen Erfolg nicht vorweisen konnten. Die können frisch anfangen.

 

Genau, die können unglaublich schnell den Schalter umlegen, Städte hochziehen, den Bürger total überwachen.

Yogeshwar: Die Totalüberwachung ist im Prinzip bei uns auch möglich. Ich nehme mal Estland als Beispiel. Dort ist die digitale Infrastruktur heute besser als in Deutschland. Der Grund ist, dass Deutschland vor 30 Jahren bereits eine funktionierende Infrastruktur hatte - im Gegensatz zu Estland, da funktionierte nichts richtig. Heute hat Estland investiert und wir hinken hinterher, denn der dringend notwendige Umbau geht nur schleppend.

 

Verändert sich das Leben eigentlich immer schneller? Beschleunigt sich die Geschichte, wie manche Historiker glauben?

Yogeshwar: Wir erleben einen Wandel in einer Qualität und in einer Geschwindigkeit, wie es ihn nie zuvor gegeben hat. Wir leben heute in einer Welt, in der der Wandel nicht mehr nur in einem Land stattfindet, sondern global. Das Mobiltelefon etwa wird überall gleichermaßen genutzt, in China oder Indien oder bei uns. Wir haben zudem einen Wandel, der zum ersten Mal in der Geschichte unsere Gegenwart direkt verändert. Das war vor hundert Jahren ganz anders. Ein beliebtes Beispiel ist die Elektrifizierung in Berlin. Die dauerte Jahrzehnte. Selbst ein halbes Jahrhundert nach Einführung der elektrischen Straßenbeleuchtung war es mitnichten so, dass alle Berliner einen elektrischen Anschluss hatten.

 

Wenn Sie auf die vergangenen 50 Jahre zurückblicken: Was hat Ihr Leben am meisten verändert?

Yogeshwar: Ich glaube, die Tatsache, dass durch globale Netzwerke die Welt enger zusammenrückt. Ich habe meine Kindheit in Indien verbracht. Zweimal im Jahr wurde mit meiner Luxemburger Großmutter telefoniert. Das war sehr kostbar, selten und teuer. Heute ist es so, dass unsere Kinder Work and Travel in Australien machen und sich allabendlich per Skype bei ihren Eltern melden. Das ist die neue Konnektivität. Und sie ist zum ersten Mal in der Geschichte symmetrisch.

 

Was ist damit gemeint?

Yogeshwar: Egal, ob Sie einen Internetanschluss in Berlin oder in Bombay haben, Sie kommen an die gleichen Informationen. Das hat es vorher nie gegeben.

 

Wenn Sie sich etwas wünschen könnten für die Zukunft: Was hoffen Sie, sollte geschehen? Oder wovor warnen Sie?

Yogeshwar: Ich plädiere für etwas, was ich reflektierten Fortschritt nenne. Wenn wir über Fortschritt reden, haben wir oft dystopische Vorstellungen, das Horrorszenario eines herandämmernden Untergangs. Oder wir haben auf der anderen Seite eine etwas oberflächliche Technikeuphorie. Nach dem Motto: Nichts ist unmöglich. Die wirkliche Herausforderung ist, differenziert über den Fortschritt nachzudenken. Dort Chancen zu ergreifen, wo sie da sind, aber zugleich auch kritische Bereiche zu identifizieren, Risiken zu benennen. Ich bin der Meinung, dass eine Gesellschaft durchaus in der Lage ist, diese kritischen Rahmenbedingungen auch umzusetzen. Zu Beginn der Industrialisierung gab es kein Arbeitsrecht, da gab es sklavenähnliche Zustände. Wir müssen versuchen, das zu etablieren, was man einen sozialen Fortschritt nennen könnte.

 

Das Interview führte

Jesko Schulze-Reimpell.