München
"Wir inspirieren uns gegenseitig"

07.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:43 Uhr

Die einen haben Flucht und Leid erlebt, die größte Sorge der anderen war die Frage nach dem richtigen Studiengang. Jetzt leben Flüchtlinge und Studenten im Condrobs-Wohnheim unter einem Dach, darunter (von links) Johannes Stark, Salome Vogel, ein 17-jähriger Afghane, Abdishakour aus Somalia und Simon Janßen. - Foto: Stäbler

München (DK) Sie sind etwa gleich alt, doch ihre Lebensgeschichten könnten verschiedener kaum sein: Flüchtlinge und Studenten leben im neuen Condrobs-Wohnheim in München unter einem Dach – und sollen voneinander profitieren. Heute wird die deutschlandweit einzigartige Einrichtung eröffnet.

Natürlich sind sie auch zusammen aufs Oktoberfest gegangen – schließlich sollen die Studenten den jungen Flüchtlingen ja die deutsche Alltagskultur näherbringen. Und so machten sie sich zusammen auf den Weg zur Wiesn, die bei den Flüchtlingen gewaltig Eindruck hinterließ. „Die Afghanen haben im Bierzelt ganz schön gestaunt“, erzählt der 19-jährige Johannes Stark, seit wenigen Wochen Psychologie-Student in München.

An gemeinsame Wiesn-Besuche haben sie bei der Hilfsorganisation Condrobs wohl eher weniger gedacht, als ihnen die Idee zu jenem Wohnheim im Münchner Stadtteil Obersendling kam, in dem Johannes Stark seit Kurzem lebt. Gemeinsam mit 41 anderen Studenten. Und gemeinsam mit 61 jungen Flüchtlingen. „Die Idee, dass Flüchtlinge und Studenten zusammenwohnen, ist eigentlich naheliegend“, findet Melanie Contu, Leiterin des Wohnheims. „Nur ist bislang noch niemand daraufgekommen.“ Ihrem Wissen nach ist das Condrobs-Wohnheim, das heute ganz offiziell eröffnet wird, die einzige Einrichtung ihrer Art in Deutschland. Dabei liegen die Vorteile für Contu auf der Hand: „Die Leute denken immer nur daran, was die Flüchtlinge von den Studenten lernen können. Dabei trifft das andersrum genauso zu.“

Das sieht auch Johannes Stark so. „Man inspiriert sich hier gegenseitig. Die Flüchtlinge erzählen von sich und ihren Heimatländern und wir helfen ihnen beim Zurechtfinden in Deutschland.“ Der Student hat selbst gerade ein Jahr Freiwilligendienst auf den Philippinen hinter sich. „Ich war fasziniert, wie freundlich und offen mich die Leute dort aufgenommen haben.“ Gleiches will er jetzt den Flüchtlingen vermitteln.

Wobei das wichtigste Argument für die meisten Studenten natürlich der Wohnraum ist. Salome Vogel etwa hat sich auf 80 Wohnungsinserate beworben und nur Absagen erhalten. Dann stieß die 22-Jährige auf das Condrobs-Wohnheim und wurde beim Träger vorstellig. Zwischen 500 und 700 Euro Miete zahlen die Studenten für ein Zimmer mit Bad; Küche und Aufenthaltsraum werden geteilt. „Das sind die ortsüblichen Münchner Preise“, sagt Contu. Allerdings können sich die Studenten etwas dazuverdienen – indem sie Flüchtlingen Nachhilfe geben, bei Behördengängen helfen oder Dienste an der 24-Stunden-Rezeption übernehmen. Die Flüchtlinge wiederum sollen durch das Zusammenleben mit den Studenten „aus der sozialpädagogischen Blase rauskommen“, sagt Contu. Oder in den Worten von Abdishakour ausgedrückt: „Wir sind hier wie eine große Familie. Die Studenten helfen uns bei den Hausaufgaben, wir spielen Fußball und Basketball zusammen oder gehen in den Englischen Garten.“ Der 18-Jährige aus Somalia ist 2013 nach Deutschland gekommen, hat acht Monate in der Bayernkaserne gelebt, danach in einem Wohnheim. Jetzt geht er zur Schule, strebt den Quali an und danach eine Ausbildung zum Fachinformatiker. Es sind Flüchtlinge wie Abdishakour, die das Jugendamt für das Condrobs-Wohnheim vorschlägt. Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren, die eine Schule besuchen oder eine Ausbildung machen und die „in einer anderen Einrichtung auf die Spur gebracht wurden“, wie Contu es formuliert. „Die haben den Kopf frei, um sich hier voll zu integrieren.“ Und dabei sollen ihnen die gleichaltrigen deutschen Mitbewohner helfen – auch, indem sie als Vorbild dienen. Wobei Flüchtlinge und Studenten in getrennten Trakten leben, das schreibt die Heimaufsicht vor. So ist jedes Stockwerk in der Mitte unterteilt – links geht’s zu den Studentenzimmern, rechts zu den Wohngruppen der Flüchtlinge. Auch sie leben in Einzelzimmern, haben eine Gemeinschaftsküche und ein gemeinsames Bad; dazu kommt ein Raum für die Betreuer.

Damit Studenten und Flüchtlinge nicht nur nebeneinander, sondern auch miteinander leben, plant ein ehrenamtlicher Helfer regelmäßig gemeinsame Aktivitäten. Im Erdgeschoss soll in wenigen Wochen ein Bistro eröffnen: tagsüber ein öffentliches Café, abends ein Treffpunkt für die Studenten und Flüchtlinge. Als besonders verbindendes Element habe sich bislang jedoch etwas anderes erwiesen – und das völlig ungeplant, sagt Melanie Contu: „In den Gemeinschaftsräumen der Flüchtlinge gibt es Fernseher anders als bei den Studenten. Allein deshalb gehen viele von ihnen regelmäßig zu den Flüchtlingen rüber. Zum gemeinsamen Fernsehschauen.“