München
"Man sollte alles versuchen"

SPD und Grüne wollen Wahlalter auf 16 senken Wahlexperte über Erfahrungen der Bremer Vorreiter

07.06.2016 | Stand 02.12.2020, 19:42 Uhr

München (DK) Bremen war 2011 das erste Land, dass das Wahlalter auf 16 senkte. Morgen debattiert der bayerische Landtag darüber. Der stellvertretende Leiter der Bremer Landeszentrale für politische Bildung, Sebastian Ellinghaus, erklärt, welche Erfahrungen im Norden gemacht wurden.

Herr Ellinghaus, Bremen ist bundesweiter Vorreiter beim Wahlalter ab 16 Jahren. In der Diskussion in Bayern argumentieren die Befürworter, dass Jugendliche heute früher reif seien. Können Sie das nachvollziehen?

Sebastian Ellinghaus: Man kann sehen, dass die Jugendlichen schon früher mit gesellschaftlichen Aspekten in Berührung kommen, die für sie relevant sind und durch Wahlen bestimmt werden - zum Beispiel Themen wie der Umgang mit Neuen Medien oder freies Wlan. Das betrifft Jugendliche auch schon mit 15 oder 16. Zudem haben sie im Netz einen ganz anderen Zugang zu Informationen, als es früher der Fall war. Insofern hat es schon eine Verschiebung nach vorne gegeben. Ob das mit früherer Reife zu tun hat, weiß ich nicht.

 

Ist das politische Interesse bei Jugendlichen durch soziale Medien gestiegen?

Ellinghaus: Jugendliche beschäftigen sich sicher früher mit bestimmten Themen als vor 20 Jahren. Ob das ein früheres Interesse für wählbare Politik generiert, sehe ich kritisch. Es ist nicht so, dass die 16-Jährigen alle sagen: "Wir wollen wählen." Aber wenn man die Möglichkeit schafft, muss man das flankieren, damit davon auch Gebrauch gemacht wird.

 

Wie können die 16-Jährigen an das Thema herangeführt werden?

Ellinghaus: Als die 16-Jährigen hier 2011 erstmals wählen durften, haben wir eine massive Kampagne gehabt. Wir haben allen weiterführenden Schulen angeboten, am Projekt "Juniorwahl" teilzunehmen. Dabei wird das Thema vor den eigentlichen Wahlen mit viel Begleitmaterialien im Unterricht eingebunden. Die Schüler beschäftigen sich mit den Parteiprogrammen und dem Ablauf von Wahlen. Das mündet im tatsächlichen Wahlakt, mit den Originalwahllisten, die aber ein Wasserzeichen "Juniorwahl" tragen. Dadurch sinkt die Hemmschwelle zur Wahl zu gehen massiv. Es entsteht ein Effekt, dass es ziemlich uncool ist, wenn man nicht weiß, wie es läuft und sich nicht beteiligt. Das gilt dann auch für die Eltern zu Hause. In den Schulen haben wir mit flächendeckenden Maßnahmen noch Zugriff auf alle Jugendlichen. Das ist bei 18- oder 19-jährigen Erstwählern nicht der Fall.

 

Dafür ist aber auch eine Weiterqualifizierung der Lehrer erforderlich.

Ellinghaus: Richtig. Jede Schule hat einen Projektbeauftragten benannt, der an einer Schulung teilgenommen hat. Diese Brückenköpfe haben sich intensiver damit beschäftigt und sollen ihr Wissen weitergeben.

 

Konnte die Wahlbeteiligung - wie von Befürwortern des Wahlalters 16 argumentiert - dadurch gesteigert werden?

Ellinghaus: Die Bremer Erfahrung ist, dass durch die Senkung des Wahlalters keine massive Steigerung der Wahlbeteiligung erreicht wird. Aber es findet sehr wohl ein verantwortlicher Umgang mit dem Wahlrecht statt. Wenn jemand ein-, zwei- dreimal bei der Wahl war, dann tut er das auch dauerhaft. Insofern kann die Wahlbeteiligung langfristig gesteigert werden, aber eben nicht durch die 16-Jährigen, sondern durch die Mittzwanziger, die mit 16 und 20 schon zweimal wählen waren und dann dabei bleiben.

 

Wie macht sich das in Zahlen bemerkbar?

Ellinghaus: Wir können es nicht konkret in Zahlen festmachen, wie viele 16- und 17-Jährige zur Wahl gehen. Der Landeswahlleiter berechnet nur die Alterskohorte der Erstwähler, also der 16- bis 21-Jährigen. Die Erstwählerkohorte hat schon immer einer niedrigere Wahlbeteiligung als der Landesdurchschnitt gehabt. Das war auch 2011 und 2015 so, als die 16-Jährigen erstmals in dieser Kohorte mitbetrachtet wurden. Die Wahlbeteiligung der Erstwähler lag beide Male unter 50 Prozent, was sich im ersten Moment grottenschlecht anhört. Aber es gab nur eine Alterskohorte, in der die Wahlbeteiligung im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen zugenommen hat. Und das war die Erstwählerkohorte. Das ist ein starkes statistisches Argument, dass die Befürchtung, die Jugendlichen würden sich ohnehin nicht beteiligen, falsch ist.

 

Wählen die Jugendlichen dann auch anders als die Älteren?

Ellinghaus: Ja, aber das hat sich durch die Hinzunahme der 16- und 17-Jährigen nicht signifikant geändert. Betrachtet man das Erstwählersegment von 18 bis 21 oder von 16 bis 21 Jahren, hat es keine großen Verschiebungen gegeben. Unionswähler sind in Bremen wie auch in anderen Bundesländern bei den Erstwählern statistisch gesehen weniger stark vertreten, die Grünen sind dagegen stärker. Erstwähler wählen tendenziell progressiver. Als Parteistratege würde ich aber nicht auf die Karte setzen zu sagen, wir müssen die 16-Jährigen mitwählen lassen, weil uns das ein Prozent mehr bringt. Bei der "Juniorwahl", an der auch 14- und 15-Jährige beteiligt waren, hatte Rot-Grün fast die gleichen Verluste zu verzeichnen, wie im realen Wahlergebnis. Das heißt also, die Jugendlichen nehmen Stimmungen ähnlich auf, wie ältere Wähler.

 

Kann das Wahlalter ab 16 Jahren trotz der unterdurchschnittlichen Wahlbeteiligung der Jungen ein Instrument im Kampf gegen Politikverdrossenheit und Radikalisierung sein?

Ellinghaus: Ja, beim Wahlalter ab 18 kann es sein, dass man erst mit 21 Jahren zum ersten Mal die Chance hat, zu wählen. In diesem Lebensalter hat man meistens ganz andere Sorgen wie Jobsuche oder den Umzug an einen neuen Wohnort. Sich dann noch zum ersten Mal im Leben mit einer Wahl zu beschäftigen, kann dazu führen, dass die Demokratie solche Menschen von Beginn an verliert. Wenn Wählen aber vorher schon Normalität und ein demokratischer Routinevorgang ist, macht man auch in so einer Situation eher sein Kreuz. Wenn man sich die Tendenz der Partizipation ansieht, sollte man alles versuchen.

 

Das Interview führte

Daniel Wenisch, Foto: LZPB Bremen