Ingolstadt
"Was nicht passte, wurde passend gemacht"

18.10.2010 | Stand 03.12.2020, 3:34 Uhr

Im Fokus: Das Medieninteresse im Fall Rupp war auch am 24. Verhandlungstag ungebrochen. Polizisten führen die wegen Mordes angeklagte Ehefrau des bis dato verschwundenen Bauern am 13. Mai 2005 in den Sitzungssaal am Landgericht Ingolstadt.

Ingolstadt (DK) Es ist der 8. Dezember 2004. Ein Tag, wie ihn das Landgericht Ingolstadt bisher nie erlebt hatte. Schon um 7 Uhr früh drängen die Menschen sich vor der Tür. Zur Verhandlung kommt der Fall Rudi Rupp, angeblich erschlagen von der eigenen Familie. Wer keinen Platz ergattert, muss draußen bleiben.

Die Menschen sind so zahlreich gekommen, um einen Mordprozess ohne Leiche und ohne wirkliche Sachbeweise zu verfolgen – Nachbarn und Bekannte der Angeklagten ebenso wie Schaulustige, die den Namen Rupp nur aus den Medien kennen. Um Hermine (heute 55), die Ehefrau des mutmaßlichen Opfers, und ihre Töchter Andrea (24) und Manuela (25) zu sehen, sowie Matthias E. (27), genannt "Matze", den Verlobten des älteren Mädchens. Der junge Mann soll den nach einem Wirtshausbesuch betrunkenen heimkehrenden Bauern Rudolf Rupp in der Nacht zum 13. Oktober 2001 erschlagen und die Leiche auf recht makabre Weise beseitigt haben. Der Landwirt endet ausgeweidet und zerstückelt als Futter für die Hunde auf dem Hof. Hermine soll ihn unterstützt und die Mädchen das Geschehen zumindest tatenlos verfolgt haben, ohne dem Vater zu helfen. So steht es – in allen grauenhaften Details beschrieben – in der Anklageschrift.
 
Als die Rupp-Frauen und Matthias E. in Begleitung der Polizei den Saal betreten, erhält der Begriff "Vorführbeamte" eine neue Bedeutung. Das Volk raunt. Derbe Zwischenrufe sind zu hören. Mancher hat schon jetzt sein Urteil gefällt, noch bevor es los gegangen ist. Ein Blitzlichtgewitter bricht über die Beschuldigten herein, Medienvertreter richten im Dutzend ihre Kameras auf die Familie. Die ist – bis dahin in völlig verlotterten Verhältnissen am Rande der Gesellschaft lebend – mit der Situation an diesem ersten Prozesstag sichtlich überfordert. Mit ausgestrecktem Mittelfinger quittiert Hermine das Geschehen. Tochter Andrea wirft böse Blicke um sich, ihre Schwester Manuela klammert sich verängstigt an einen Polizisten. "Matze" steht derweil scheinbar unberührt im Raum.
 
Als das Verfahren am 13. Mai 2005 nach 24 Verhandlungstagen sein Ende findet, haben alle vier gelernt, mit diesem Druck umzugehen. Das Urteil, jeweils achteinhalb Jahre Freiheitsentzug wegen Totschlags für Hermine Rupp und Matthias E. sowie zweieinhalb beziehungsweise dreieinhalb Jahre für die beiden Mädchen wegen Beihilfe durch Unterlassen lässt sie dagegen weniger kalt.
 
Dazwischen liegen scheinbar endlose Vernehmungen von Zeugen und Sachverständigen sowie Einlassungen und taktische Manöver der Verteidiger. Stück für Stück baut sich für die 1. Jugendkammer unter Vorsitz von Georg Sitka ein Bild auf, das letztlich zum Schuldspruch führt. Obwohl sich am Ort des Geschehens im Keller des Hauses nie auch nur der kleinste Blutspritzer oder ein Knochensplitter fand. Dennoch ist das Gericht überzeugt: Mit dem spitzen Ende eines Maurerhammers soll "Matze" den Bauern erschlagen haben, nachdem er ihm zuvor ein Kantholz über den Schädel gezogen oder ins Genick gehauen hatte. Das Werkzeug steckte angeblich so tief im Kopf des Opfers, dass der Verlobte von Manuela den Hammer nur mit viel Kraft wieder heraus bekam.
 
"Wir haben damals anhand der Aussagen davon ausgehen müssen, dass es tatsächlich so passiert ist", sagt Sitka aus heutiger Sicht. "Der Fall ist nach den vorliegenden Erkenntnissen voll ausgeleuchtet worden." Und noch etwas führt der Vorsitzende Richter ins Feld: "Das Urteil ist vom Bundesgerichtshof genau überprüft worden, ohne dass irgendwelche Fehler entdeckt worden wären." Nicht zu vergessen auch: Immerhin ist es Matthias E. gewesen, der im April 2004 in einem später nicht wiederholten Geständnis die Version von der Zerstückelung selber aufgebracht hatte – so detailreich, dass selbst erfahrene Ermittler schluckten.
 
Inzwischen weiß Sitka, dass die 2005 als gesichert geltende Version nie und nimmer richtig sein kann. Ebenso wenig wie die blutrünstige Geschichte von der Leichenzerteilung. Denn am 10. März 2009 findet die Polizei – eher zufällig – Rudi Rupps Leiche in der Donau bei Bergheim. Überrascht ist nicht nur der im Ermittlungsverfahren federführende Kripobeamte. Beim Prozess in Ingolstadt hatte er noch verkündet, dass der bis dato vermisste Rupp "mit hundertprozentiger Sicherheit in keinem Gewässer im Fünf-Kilometer-Umkreis von Heinrichsheim liegt. Wir haben alle abgesucht." Überrascht sind alle Verfahrensbeteiligten. Denn Schädel und Genick des Toten weisen keinerlei Spuren auf, die von einem Hammer oder Kantholz herrühren. Erschlagen worden ist Rupp demnach nicht. Es sei denn, der Knochen wäre heil geblieben und der Bauer nur halb tot gewesen, als er im Auto in der Donau versenkt wurde. Aber das zu klären, ist Sache der nächsten Instanz.
 
"Ich kann mir bis heute nicht vorstellen, wie jemand diese Geschichte mit der Zerstückelung der Leiche einfach so erfinden kann", schüttelt Rechtsanwalt Norbert Feldmeier den Kopf. Er ist 2005 der Verteidiger der älteren Tochter Rupps gewesen. "Froh" war er, als die Leiche des verschwundenen Bauern plötzlich auftauchte. "Weil endlich diese Ungewissheit vorbei ist." Die vielen Ungereimtheiten, so meint Feldmeier, "hätten alle mehr hinterfragt werden müssen."
 
So sieht es auch Klaus Wittmann, der Hermine Rupp ab morgen verteidigen wird. "Das war alles sehr oberflächlich", befindet er. "Viele Aussagen sind weder genau überprüft noch wissenschaftlich untermauert worden. Wo was nicht gepasst hat, ist es passend gemacht worden." Etwa was die angebliche Verfütterung der Leiche an die Hunde betrifft. "Da hat das Gericht dann spekuliert, dass es auch die Schweine gewesen sein könnten, weil die mit ihrem starken Gebiss auch Knochen zermalmen." Alles nur Mutmaßungen, aber keine objektiven Beweise, sagt Wittmann.
 
"Für uns war es doch völlig irrelevant, wie die Leiche beseitigt worden ist", hält Richter Sitka dagegen. "Strafrechtlich hat sich das ohnehin nicht ausgewirkt, uns hat nur das Geschehen davor interessiert. Und das war soweit schlüssig, damals wenigstens." Deswegen war Sitka überrascht, als das Auto Rupps in der Donau auftauchte. Das morgen in Landshut beginnende Verfahren will er natürlich mitverfolgen. "Denn gespannt, wie es ausgehen wird, bin ich auch!"