Ingolstadt
"Der Angeklagte ist einer, der keine Grenzen kennt"

15.12.2009 | Stand 03.12.2020, 4:24 Uhr

Ingolstadt (DK) Es war ein eiskaltes Verbrechen. Zwar nicht langfristig geplant, aber kaltschnäuzig durchgezogen. Ohne jedes Mitgefühl für das Opfer. Das, was Staatsanwalt Robert Pohle einem 22-Jährigen vorwirft, hat die Ingolstädter Justiz selten in dieser Form gesehen. Demnach hatte der Mann im Hafturlaub eine 24-Jährige verfolgt, sie überwältigt und zum Sex gezwungen. Auf Geiselnahme, Körperverletzung und Vergewaltigung lautete gestern die Anklage vor der 1. Strafkammer am Landgericht Ingolstadt.

Mit der Justiz kennt der Mann sich bestens aus. Von den vergangenen acht Jahren hat er die meiste Zeit im Gefängnis verbracht. Große Worte wollte der 22-Jährige gestern zu den neuerlichen Vorwürfen nicht verlieren, nur soviel: Ja, er bekenne sich schuldig, er habe die junge Frau überwältigt, um sich von ihr befriedigen zu lassen. Zum Motiv befragt, blieb er dem Vorsitzenden Richter Paul Weingartner die Antwort schuldig. Bei der Kriminalpolizei Ingolstadt war der gebürtige Berliner nach seiner Festnahme noch gesprächiger gewesen: "Jetzt schnapp’ ich mir die, weil ich geil bin", gab er zu Protokoll.

Das Opfer hatte im vergangenen Frühjahr den Albtraum jeder Frau erlebt. Die 24-Jährige aus dem Landkreis Pfaffenhofen fährt täglich mit dem Zug zwischen ihrer Arbeitsstätte in München und ihrem Wohnort hin und her. Daheim steigt sie für das letzte Stück ins Auto. So geschieht es auch am Nachmittag des 17. April: Am Münchner Hauptbahnhof sticht sie dem jungen Hafturlauber ins Auge, der sich eigentlich am selben Tag wieder im Laufener Gefängnis hätte einfinden sollen. "Ich hatte aber keine Lust, zurückzufahren", sagt er dem Gericht.

Lieber heftet er sich der Frau aus dem Landkreis Pfaffenhofen an die Fersen, wie es in der Anklage heißt. Schnell ist der Plan gefasst, sie zu vergewaltigen. Er steigt mit ihr in den Zug, behält sie im Auge, folgt ihr, als sie in Rohrbach aussteigt und ihr Auto öffnet. Er nimmt sie in den Würgegriff, droht ihr mehrfach mit dem Tod, dirigiert sie auf einen Waldweg. Dort zwingt er die 24-Jährige zu sexuellen Handlungen. Zuletzt kann sie sich befreien, zu ihrem Glück kommt gerade ein Spaziergänger mit seinem Hund vorbei. Der 70-Jährige verfolgt den mutmaßlichen Täter, während die Frau an der Straße ein Auto anhält und die Polizei ruft. Wenig später klicken die Handschellen.
 
Psychisch angeschlagen
 
Körperlich hat das Opfer kaum Blessuren davongetragen, die seelischen Wunden sind bis heute nicht verheilt. Die 24-Jährige ist noch immer in psychologischer Behandlung, leidet an Angstzuständen und fühlt sich oft ohne Grund verfolgt. Der Gang in den Gerichtssaal – unter den Augen des mutmaßlichen Täters – fällt ihr sichtlich schwer. Der Vater ist mitgekommen, um Beistand zu leisten. Sie ist froh, dass sie nach dem Geständnis keine Details der Vergewaltigung schildern muss. Der 70-Jährige, der ihr damals geholfen hat, muss ebenfalls in den Zeugenstand. "Der gehört kastriert, das wäre das Beste", murmelt der Wolnzacher nach seiner Aussage im Hinausgehen.

Der Angeklagte ist einer, der keine Grenzen kennt, sagt der der psychologische Gutachter Günter Lauber. Jemand, der sich nicht in andere hineinfühlen kann, einer mit starkem Aggressionspotenzial. Wie so oft in solchen Fällen blickt der 22-Jährige auf eine traurige Kindheit zurück, geprägt von Alkoholmissbrauch und Gewalt im Elternhaus. Der Vater hat sich buchstäblich zu Tode getrunken. Die Mutter zieht rastlos in der Republik herum, hält es nirgends lange aus.
 
Mit 14 schon straffällig
 
Für den Angeklagten und seine vier Geschwister bleibt keine Zeit, Wurzeln zu schlagen oder Freunde zu finden. Schon früh greift er zur Flasche und wird mit 14 Jahren straffällig. Mit seinem Bruder macht er gezielt Jagd auf Mädchen, gemeinsam vergewaltigen sie eine 17-Jährige, machen sie mit Faustschlägen gefügig. Andere von ihnen attackierte Mädchen entgehen nur knapp diesem Schicksal. Als das Brüderpaar 2002 verurteilt wird, spricht das Gericht von "kaum zu überbietender Brutalität". Ungläubiges Schweigen gestern im Saal, als damalige Protokolle verlesen werden.

Und nun wieder ein ähnlicher Vorwurf. Es geht um viel, nicht nur um sieben, acht oder neun Jahre Gefängnis im Fall eines Schuldspruchs. Die Sicherungsverwahrung steht im Raum, da macht sich Verteidiger Jörg Gragert keine Illusionen. Nächsten Dienstag, wenn die Sachverständigen zur Wiederholungsgefahr Stellung bezogen haben, wird die Entscheidung fallen.