Karlshuld
"So etwas erlebst du nie wieder"

Alwin Raupach aus Karlshuld war als Kind bei der Olympia-Eröffnungsfeier vor 80 Jahren in Berlin dabei

04.08.2016 | Stand 02.12.2020, 19:27 Uhr

Karlshuld (SZ) Wenn heute die Olympischen Spiele mit der großen Eröffnungsfeier beginnen, feiert Alwin Raupach (92) in Karlshuld ganz still ein ungewöhnliches Jubiläum. Vor 80 Jahren war der gebürtige Berliner als Zwölfjähriger bei der Auftaktveranstaltung im Berliner Olympiastadion dabei.

Im gelben Overall, als Teil der Olympischen Ringe, genauer gesagt "Gelb - für Asien", wie er fast schon militärisch knapp sagt. Die Geschichte hat er in den vergangenen Tagen häufig erzählen müssen. Oft wird er auf die Gnadenhochzeit angesprochen, die er und seine Frau Maria (90) nächstes Jahr feiern können. Dann antwortet er, dass er vorher noch ein anderes Jubiläum feiert, was stets Staunen auslöst. "Wie kommst denn du zu den Olympischen Spielen", wollen dann seine Freunde beispielsweise beim BRK, wo er seit vielen Jahrzehnten ehrenamtlich aktiv ist, wissen.

Raupach ist in Berlin-Charlottenburg aufgewachsen, in der Krumme Straße "zwischen Oper und Rathaus", wie er augenzwinkernd sagt. Als Zwölfjähriger besuchte er die Volksschule an der Pestalozzi-Straße. An den Namen des Lehrers kann er sich noch gut erinnern, "Herr Loose", hieß sein Klassleiter. Und der kam eines Tages ins Klassenzimmer und erklärte ihm und einem weiteren Jungen - Buben und Mädchen wurden damals in getrennten Gebäuden unterrichtet - vor der ganzen Klasse, dass sie beide ausgewählt worden seien, bei der Eröffnungsfeier mitzuwirken.

Sie sollten ihre Eltern um deren Einverständnis bitten, denn damit verbunden war eine vierwöchige Schulbefreiung. "Ich will nicht sagen, dass wir die Besten waren", sagt er, "aber der Lehrer hat uns wohl zugetraut, dass wir wieder in den Unterricht reinkommen". Angst vorm Sitzenbleiben hätte ein Grund sein können, nicht mitzumachen, denn "eine feste Quote fiel immer durch, vier pro Klasse mussten sitzenbleiben - das war damals so". Seine Großmutter aber habe gesagt: "Mach halt mit - so etwas erlebst du nie wieder". Sie sei begeistert gewesen. Er selbst natürlich auch.

Jeden Morgen um 8 Uhr früh kam ein Lastwagen der Wehrmacht und holte die Burschen am Karl-August-Platz nahe der Schule ab. Unterwegs stiegen weitere zu, bis die Ladefläche voll war mit Jungs, die die Köpfe reckten, um zu sehen und gesehen zu werden. "Das war schon etwas, mit den Soldaten unterwegs zu sein - wir fühlten uns selbst wie halbe Soldaten", erinnert sich der 92-Jährige. Eine halbe Stunde etwa dauerte die Fahrt, "und dann sind wir da draußen rumgeschickt worden".

Bloß Wiese sei dort gewesen, wo sich die Kinder drei Wochen lang jeden Tag aufstellen mussten, zunächst in ihren eigenen Sportklamotten. In der vierten und letzten Woche erhielten sie die farbigen Overalls, die sie mit nach Hause nahmen, um das zeitaufwendige Umziehen zu sparen - sie zogen sich zu Hause schon vor dem Transport auf die Wiese an. Zu dritt oder viert standen die Jungs nebeneinander, um die Ringe zu bilden. Ganz sicher ist er sich nicht mehr, "aber ich glaube, wir waren vier in einer Reihe". Den Durchmesser eines jeden Rings schätzt er auf etwa zehn Meter. Gebildet wurden sie ausschließlich von Jungen. Die beteiligten Mädchen stellten - alle im weißen Tennisdress gekleidet - das Fahnentuch dar. "Von oben, von der Tribüne aus, sah es tatsächlich wie die Olympische Flagge aus", sagt Raupach.

Warum eigentlich so lange geübt wurde? Das erklärt er damit, dass die Ringe ineinander verschachtelt waren, "es dauerte, bis wir wussten, wie wir uns zu verhalten haben". In den kurzen Pausen brachte die Wehrmacht Kübel mit Wasser, aus denen sich die Kinder erfrischen konnten, indem sie das Wasser mit den Händen daraus schöpften, "Becher gab es keine". Immerhin aber eigene Kübel für die Mädels, denn die hätten, so meint Raupach, sonst keine Chance gehabt, ans Wasser zu kommen, "die Jungs hätten sie weggeschoben". Auch so war der Kampf hart - wer während der kurz bemessenen Pause nicht zum Zug kam, musste bis zur nächsten warten.

Nicht immer war es heiß. Mindestens einmal hat es geregnet. Was Raupach gut in Erinnerung geblieben ist, denn er fiel an einem Freitag in den Dreck. Zu allem Überfluss war seine Großmutter zu einem Wochenendausflug aufgebrochen und so musste er seinen gelben Overall selber waschen und bügeln. Als die Großmutter heimkam, stellte sie fest, dass er die Bügelfalte falsch gesetzt hatte - seitlich statt vorn. "Sie hat es wieder gerichtet", schließt er die kleine Anekdote.

Immer wieder bekamen die Kinder Besuch von "der Prominenz" wie er sie ironisch bezeichnet. An Reichsjugendführer Baldur von Schierach, Reichsportführer Hans von Tschammer und Osten sowie Hermann Göring erinnert er sich gut. "Der Hermann war besonders oft da, er kam jede Woche mit seinen beiden Hunden und schaute, was wir machten", erzählt Raupach. Pannen habe es keine gegeben, "und wenn, dann hat man es uns nicht gesagt". Doch - etwas ist ihm in Erinnerung geblieben - das Olympische Feuer entzündete sich nicht gleich, als Fackelläufer Siegfried Eifrig die Fackel in die Schale hielt. "Wir hatten erwartet, dass es sofort auflodern würde, aber es dauerte einige Zeit", verrät er, "wir dachten schon, 'welche Blamage'". (Ein Blick in die alte Wochenschau erzählt eine andere Geschichte - offenbar wurde hier geschnitten, Anmerkung der Redaktion).

Zur Belohnung erhielten die an der Eröffnungsfeier beteiligten Kinder je Freikarten für drei Tage der olympischen Wettbewerbe. So erlebte der zwölfjährige Alwin mit, wie der Leichtathlet Jesse Owens, der Star der Spiele, Olympiasieger über 100 und 200 Meter wurde, außerdem sah er Schwimmwettbewerbe und ein Ballspiel.

Die Eröffnungsmusik klingt ihm immer noch in den Ohren. "Wir haben stundenlang das Gleiche gehört - ekelhaft", weiß er noch.