''Eine Völkerwanderung der Elenden''

Pfaffenhofens Stadtarchivar Andreas Sauer präsentiert sein Buch zur Geschichte der Vertriebenen

08.11.2016 | Stand 02.12.2020, 19:05 Uhr
Flucht und Vertreibung: Stadtarchivar Andreas Sauer präsentiert sein neues Buch. −Foto: Paul

Pfaffenhofen (PK) Der Stadtarchivar der Kreisstadt, Andreas Sauer, präsentierte am Freitagabend im Rathausfestsaal sein Buch „Entwurzelt – unterwegs – angekommen. 70 Jahre Flucht und Vertreibung in Stadt und Landkreis Pfaffenhofen a. d. Ilm 1945/46“.

Fast bis auf den letzten Platz besetzt war der Saal, darunter viele ältere Mitbürger, von denen man annehmen konnte, dass sie nicht allein zeitgeschichtliches Interesse bewogen hatte, die Veranstaltung zu besuchen. Und tatsächlich: Als Bürgermeister Thomas Herker (SPD), der durch die Veranstaltung führte, vom Publikum wissen wollte, wer selbst von Flucht und Vertreibung betroffen war, da hob bereits ein Viertel die Hände. Auf die Anschlussfrage, wer denn zumindest einen Bezug zum Thema inder eigenenFamilie habe,war es dann bereits mehr als die Hälfte der Anwesenden.

Pfaffenhofen wäre heute ohne die Vertriebenen eine andere Stadt, auch quantitativ: Noch im Sommer 1942 lebten in der Kreisstadt lediglich rund 5000 Menschen. Doch dann ging es sehr schnell. Zunächst kamen 4000 Evakuierte aus vom Krieg verwüsteten deutschen Territorien in den Landkreis. Die erste Welle an Flüchtlingen erfolgte im Frühjahr 1945, als sich der Krieg dem Ende zuneigte – vor allem Schlesier. Der eigentliche Strom an Menschen erreichte Pfaffenhofen dann ab März 1946 – als in den ehemals deutschen Gebieten, vor allem im nun zur Tschechoslowakei gehörenden Sudetenland, die systematische Vertreibung begann. Im zweiten Friedenssommer 1946 war die Einwohnerschaft der Kreisstadt dann bereits auf mehr als 8000 Menschen angewachsen, berichtete Andreas Sauer. In den anderen damals 78 Gemeinden des Landkreises sah es ähnlich aus, insgesamt waren es mehr als 7000 Menschen.

Das amerikanisch besetzte Bayern musste – die politischen Parallelen zur heutigen Flüchtlingskrise drängen sich förmlich auf–auch damals den weitaus größten Teil der Flüchtlinge aufnehmen: „Die französische Besatzungszone – zu dieser gehörten in etwa das Territorium der heutigen Bundesländer Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz – weigerte sich, Flüchtlinge aufzunehmen“, so der Stadtarchivar. Nach Norddeutschland, zu den Briten, war der Weg oft zu weit. Und in die sowjetische Zone wollte kaum jemand freiwillig. Die erste Registrierung und Versorgung in der Stadt erfolgte dann im heutigen „Moosburger Hof“. Wobei es wenig zu verteilen gab. Es mangelte den Neu-Bürgern an allem: an Unterkünften, an Lebensmitteln, an medizinischer Versorgung. Als Quelle dienten Andreas Sauer hierzu unter anderem die Tagebuchaufzeichnungen des Pfaffenhofener Volksschullehrers Otto Stumm: „Jetzt heißt es noch mehr zusammenrü- cken“, schreibt der Pädagoge in akkurater Handschrift in einem seiner mehr als 50 Hefte. „Eine Völkerwanderung der Elenden wird sich über Deutschland ergießen.

“ Mehr als zehn Jahre, so dokumentiert es der Autor, dauerte es, bis in der Stadt Pfaffenhofen und im Landkreis die Vertriebenen integriert waren – inzwischen auch als Vertreter ihrer Landsleute im Stadtrat und Kreistag und als industrielle Unternehmer. Die vom selbst auch vertriebenen Unternehmer Ernst Herion initiierte gleichnamige NeubürgerSiedlung wurde zum Integrations-Vorbild für ganz Bayern. Gut eine Stunde referierte Andreas Sauer zum Thema – mehr war es auch ein Vortrag denn eine klassische Lesung, der Autor sprach stets frei. Ergänzt wurden seine Ausführungen durch Bilddokumentationen, im Anschluss gab es dann noch Raum für die Schilderung persönlicher Schicksale einzelner Zuhörer: Obgleich in Teilen identisch, waren die Berichte doch ergreifend.

Das Buch (ISBN: 978-3-00- 054632-7) ist 214 Seiten stark und kostet 14,95 Euro. Es ist überall im Buchhandel zu erwerben. Die Zeichnung auf dem Buchdeckel stammt von der Vertriebenen Hermine Günther aus Brünn, einer in Geisenfeld und später in Passau tätigen Künstlerin. Außerdem startete am Wochenende eine bis Samstag, 3. Dezember, geöffnete Ausstellung zum gleichen Thema im Foyer des Rathauses – zu sehen während der Öffnungszeiten des Bürgerbüros.