Mit der Spritze zur Arbeit

07.10.2008 | Stand 03.12.2020, 5:32 Uhr

Ingolstadt (DK) Das nächste Urteil gegen die Ingolstädter Heroinmafia: Gestern schickte das Landgericht einen 26-jährigen Spätaussiedler für vier Jahre und drei Monate in Haft. Er war als Zwischenhändler aktiv gewesen; das aber nur, um sich die eigene Sucht zu finanzieren.

Die Schlagzeile aus der Zeitung war Landgerichtsvizepräsident Paul Weingartner ins Auge gesprungen: Vom inzwischen 13. Drogentoten des Jahres in der Region wurde in der gestrigen Ausgabe berichtet. Für den Vorsitzenden Richter der 1. Strafkammer eindringlich, da Weingartner gestern Vormittag ebenfalls mit einem Heroinabhängigen zu tun hatte: 26 Jahre ist der Spätaussiedler alt, der auf der Anklagebank vor ihm sitzt. Er hat voriges Jahr über einen Zeitraum von 13 Wochen mindestens 52 Mal Heroin in Mengen bis zu fünf Gramm gekauft. Seine Lieferanten gehören zu dem Kreis, der sich in der Stadt inzwischen als "Russenmafia" einen Namen gemacht hat. Er selbst zähle aber nicht dazu, beteuert der Angeklagte, sondern konsumiere die Drogen selbst. Ein Drittel etwa verkaufte er als Zwischenhändler weiter, nur um sich die Sucht zu finanzieren, sagt er. Das Gericht glaubte ihm das.

Drogen bestimmen das Leben des jungen Mannes inzwischen seit fast einem Jahrzehnt. Er bricht im Jahr 2000 eine Zimmererlehre im ersten Ausbildungsjahr ab und friert auch seine sportlichen Ambitionen im Eishockey ein. Er hat, gewissermaßen, einen neuen Meister gefunden: Heroin.

Die Droge brachte den 26-Jährigen schon einmal ins Gefängnis. Mehr als drei Jahre Jugendstrafe hat er wegen Drogenbesitzes und anderer Delikte abgesessen. Als er im Mai 2006 entlassen wird, rutscht er schnell wieder ab in die Szene. Mehrere Entzüge und Therapien halfen nichts. Von einer "äußerst hohen Rückfallgeschwindigkeit" spricht der Leitende Landgerichtsarzt Dr. Hubert Haderthauer. Besonders von den jüngsten Entzugsversuchen des jungen Mannes hält er nichts. "Eine Scheinbehandlung", geißelt er den Klinikaufenthalt in Odessa (Ukraine), wo dem Angeklagten die Medikamente auf Depot verabreicht wurden, so dass die Sucht ein paar Tage geblockt war. "Als würde man jemandem mit Durchfall einen Stöpsel verpassen", so Haderthauer deutlich.

2,5 Gramm Heroin und mehr spritzt sich der Spätaussiedler täglich. Teilweise nimmt er sich eine Ration mit in die Arbeit, die er trotz der Sucht noch durchziehen kann. "Da muss man sich ziemlich zusammenreißen", wundert sich Weingartner, "da ist er eine Ausnahme." Der Vorsitzende Richter versucht, dem 26-Jährigen ins Gewissen zu reden: "Da haben Sie gerade noch einmal die Kurve gekriegt", spielt Weingartner auf die Nachricht vom Drogentoten an. "Sie sind mit 26 noch nicht so alt, dass man Sie abschreiben müsste." Auch nach den vier Jahren und drei Monaten Haft nicht, die das Gericht verhängt. Staatsanwaltschaft und Verteidigung hatten jeweils vier Jahre beantragt.

Der junge Mann solle unbedingt die letzte Möglichkeit nutzen, lässt auch Haderthauer durchblicken. "Die Chance auf eine vielleicht nicht dauerhafte, aber längerfristige Abstinenz ist da", sagt er. Dafür sei eine Therapie von mindestens einem Jahr nötig. Bis der Spätaussiedler diese antreten kann, muss er erst ein Jahr Freiheitsstrafe absitzen. Auf sein Handy, das ihm eingezogen wurde, muss er für immer verzichten. "Im Gefängnis brauchen S’ eh keins, und wenn Sie wieder rauskommen, gibt’s neue", sagte Weingartner. Das Urteil ist rechtskräftig.