Pfaffenhofen
Neue Volkskultur wird nicht zelebriert, sondern gelebt

10.12.2009 | Stand 03.12.2020, 4:25 Uhr

Wo Gelassenheit an der Tagesordnung ist, da kommen alle Generationen zusammen. Zum Beispiel bei den Pfaffenhofener Goaßlschnoizern. Der Älteste ist 83, der Jüngste 15. Und das Interesse steigt: Vier neue Zugänge in jüngster Zeit. - Foto: Archiv

Pfaffenhofen (DK) Münchsmünster, Hoagartn im Bürgersaal: Gedränge am Eingang, die Schlange wird immer länger. Wegen des Ziach-Spielers sei er da, erklärt einer der Wartenden, den kennt er seit seiner Jugend. Vor ihm eine ältere Frau, die Enkelin an der Hand: "Humorig soll es sein bei den Hoagartn, die Günter Halbich veranstaltet, drum bin ich da."

Prielhof, Jahrtags-Volkstanz des Vereins "Bayern, Brauch und Volksmusik": Die "Wolnzacher Tanzlmusi" spielt ins bunte Gemenge hinein, rosa Schürzen, blaue Schürzen, grüne, schwarze, orange Gilets. Münchner Polka; nach einer Drehung steht ein Deandl plötzlich vor dem falschen Buam. "Öha! Der meine hat doch grad noch a Tracht angehabt!", scherzt sie, lacht: "Das kommt, weils so voll ist!"

Schüler, Junge, Alte – "insgesamt 250 Tanzler diesmal!", freut sich 2. Vereinsvorsitzende Elisabeth Landfried. Fraglos: Regionalkultur ist im Aufschwung. Wo es früher nur vereinzelt öffentliche Hoagartn gab, werden sie jetzt allerorten im Landkreis und entlang seiner Grenzen veranstaltet, von Lenting bis Thierham, von Pfaffenhofen bis Zell. Im Mittelpunkt steht Volksmusik, das Mitsingen und Mitspielen, genau wie bei den Zusammenkünften im Heimgarten, wie es sie früher einmal gab.

Volle Tanzböden

Auch die Zahl der Volkstanzkurse steigt, die Tanzböden sind proppenvoll, Volkstanzler können zwischen geschätzt 150 großen ober- und niederbayerischen Tanzabenden wählen. Mundartabende: stärker gefragt; Kurse zum Dirndl-Nähen, Klosterarbeiten oder für regionale Küche: ausgebucht; das Interesse an "alten" Instrumenten wie Zither: gestiegen, genauso wie die Mitgliederzahl beim Trachtenverein, am deutlichsten in der Jugendgruppe. Auch in der Öffentlichkeit ist mehr Tracht zu sehen. In nahezu allen Bereichen der Regionalkultur verzeichnet man ein Aufwärts. Eine Entwicklung, die in der Region vor rund zehn Jahren begann; der Trend verstärkte sich vor zirka vier Jahren, und seit 2008 ist es eindeutig. "Wieder mehr Bayern in Bayern", bestätigt Martin Wölzmüller vom Landesverein für Heimatpflege. Volkskultur erfasse zwar längst nicht mehr das ganze Volk, sei aber wieder deutlich da, nicht nur in der hiesigen Region. "Es gibt eine Geschichtswelle wie selten zuvor", stellt auch Ferdinand Kramer, Professor für Bayerische Geschichte an der LMU, fest. Regionalkultur im Aufschwung – und wer schwingt mit? Es sind Hiesige im Alter zwischen fünf und 95 Jahren. Von außen betrachtet eine einzige große Bayern-Welle aus Jung und Alt. Bei genauerem Hinsehen: die Bayern-Welle ist eine doppelte. Es wird wieder getanzt – aber auf verschiedenen Hochzeiten.

Die Hüter des Grals

Oma und Enkelin haben es noch in den Münchsmünsterer Bürgersaal geschafft, zwei der letzten Plätze ergattert. Die Leute singen "I bin da Wirt vom Stoa". Was "Stoa" ist, will das Mädchen wissen, und kurz darauf, was eine Gams sei. Kopfschütteln gegenüber: "Die kennen gar nix mehr", kommentiert ein älterer Besucher, für alle hörbar. "Das kommt, wenn die Eltern mit den Kindern bloß hochdeutsch reden. Womöglich kennt des Fräulein des englische Wort, aber nicht das bayerische, hä" – "Genau diese Leute sind’s, die uns spalten!", macht sich ein anderer Gast Luft: "Ich weiß, was er meint, und im Grunde besteht Einigkeit. Dialekt ist griffig, treffsicher, würzig – unbedingt erhaltenswert. Aber das ist doch keine Art!" Er sei auch nur hier, um die Lokalität zu prüfen, da er selbst Hoagartn veranstalte – ansonsten hält sich der Mittvierziger von den "reinen 60plus-Veranstaltungen" fern, wie er sagt. Namentlich will er nicht genannt werden: Anfeindungen kämen prompt.

Seine Frau springt ihm bei. Großartig finde sie, was zum Beispiel Harri Deiner vom "Förderverein Bairische Sprache und Dialekte" leiste, sein Werben für Sorgfalt beim Reden. "Aber die Traditionsfundamentalisten und ihre Negativ-Mantras, die pack ich nicht: Englisch ist böse, die Jugend redet greißlig, wir sind überfremdet. . . Die benehmen sich wie die Hüter des Grals!" Dass sich viele der heute 40- bis 50-Jährigen so lange von Regionalkultur ferngehalten haben, daran seien entscheidend diese "Traditionswächter" Schuld: "Mittlerweile ist die Macht von denen aber viel kleiner geworden – jetzt kommen endlich die nächsten Generationen zum Zug!"

Was die mittlere und junge Generation nervt, daran stören sich viele Ältere überhaupt nicht – sie besuchen auch gerne Veranstaltungen, die ganz in der Hand der "Wächter" sind, wie Simone Egger vom Volkskundeinstitut in München bestätigt. Und was zieht diese Generation jetzt wieder so stark zum Brauchtum? Vermutlich die Angst, die der Globalisierungsdiskurs schafft, die allgegenwärtige Rede davon, dass die Welt "größer" wird, "schneller". Es entsteht gerade bei Älteren ein diffuses Unsicherheitsgefühl. "Da kann die Rückkehr zu Traditionen Halt geben," so Egger.

Für die Rückkehr der Jüngeren gibt es andere Gründe. "Für die galt es die letzten 15 Jahre, sich die "große Welt" anzueignen, auch, um neuen Anforderungen zu genügen", analysiert Wölzmüller. "Jetzt weiß man, wie es geht, auch manche Große-Welt-Euphorie ist passé. Das bedeutet wieder mehr Zeit und Aufmerksamkeit für das, was vor Ort angeboten wird." Wichtig war zudem, dass der bayerische Dialekt in der Öffentlichkeit verstärkt positiv bewertet wird.

Auch die – nicht unumstrittene – Serie "Dahoam is dahoam" spiele eine Rolle, genauso wie "quer" oder Rosenmüller-Filme. Durch sie ist Bayern ein Gesprächsthema. Und dann sind da noch die Biermösl-Blosn, die Wellküren, Polt und ähnliche. Frech und subversiv haben sie kräftig durchgekehrt. Bayern gleich hinterwäldlerisch und heimattümelnd? Die Wells und Co. waren maßgeblich beteiligt, Bayern und seine Kultur von diesem Bild zu befreien; sie haben gezeigt, dass es hier auch kritische und selbstkritische Stimmen gibt. Ein erweitertes Bayern-Bild also, zu dem auch viele Junge gerne wieder ja sagen. Am wichtigsten aber war: die Flaute selbst, die zeitweise völlige Abkehr vieler von der Volkskultur. "Traditionsfundamentalisten" wurden empfindlich in ihrer Macht beschnitten, indem man sie ignorierte – und irgendwann haben die meisten aufgegeben. Aussitzen – das war nötig, um Platz zu schaffen für eine andere Art von Regionalkultur. "Die Jungen können jetzt ihr eigenes Ding machen", so Martin Wölzmüller. Ist nun alles Tradi-Mix, Volksmusik 2.0? Nein: Man singt "Mei niglnaglneie Hopfakirm" und "Wahre Freundschaft soll nicht wanken", tanzt Zwiefache, spielt Stubnmusi, wie bisher auch. Aber ohne Mystifizierung, ohne die ständige Rede vom "Original".

Die höchste Gaudi

Abweichungen sind erlaubt: junge Volkslieder, freche neue Stücke, zum Beispiel von der Gspusi-Musi, gern auch mal mit erotischem Einschlag. Kein Rechtfertigungszwang. Die neue Volkskultur wird nicht zelebriert, sie wird gelebt. Und das aus vollen Zügen: wenn die 24-jährige Elisabeth Landfried vom Verein "Bayern, Brauch und Volksmusik" mit ihrer "jungen Blosn" unterwegs ist, von Tanzboden zu Tanzboden fährt, "ist das die höchste Gaudi!"

Die Idealvorstellung von Volkskultur ist für sie dennoch, dass Jung und Alt zusammenfinden – oft klappt das auch. Was es dazu braucht? Gelassenheit. Wie sie auch Martin Wölzmüller einfordert: "Mir ist lieber, einer kommt in Trachtenweste und Jeans als gar nix." Seine Kollegin Berta Reißner: "Wenn die Jugendlichen bei unseren Musikwochen mal einen Abend lang Schlager und Beatles spielen – ja und? Am nächsten Tag ist es wieder der Landler, da muss man sich gar keine Sorgen machen."

Und wenn auf youtube Haindlings "Mia samma mia" zu einem Rammstein-Video gemixt oder ein Hollywood-Film mit Dialekt unterlegt wird? "Mir muss nicht alles gefallen. Tuts auch nicht. Aber jeder so, wie er will", bekräftigt Elisabeth Landfried. Bloß koa Gschroa!