Ingolstadt
20 Jahre Einheit: Kritische Bilanz

03.10.2010 | Stand 03.12.2020, 3:37 Uhr

Die Einheit ist für den Schriftsteller Thomas Brussig ein Thema für alle Deutschen und eng mit der Integration von Migranten verknüpft. - Foto: Herbert

Ingolstadt (DK) Mit der staatlichen Einheit Deutschlands ist noch längst nicht die deutsche Einheit hergestellt: Dieses Fazit zog der Schriftsteller Thomas Brussig bei seinem Vortrag zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit in der VHS Ingolstadt.

"Unerledigt" ist für den 1965 in Ost-Berlin geborenen Autor, der 1995 mit dem Wenderoman "Helden wie wir" seinen Durchbruch hatte, das Thema Deutsche Einheit auch heute noch. "Es wurde immerhin nicht so schlimm wie von manchen – auch von mir – befürchtet", räumte Brussig am Freitagabend in seinem interessanten und durchaus auch amüsanten Vortrag ein.
 

Damit fällt dessen Fazit nicht so positiv aus wie das von Alfred Lehmann. Im voll besetzten Rudolf-Koller-Saal hatte der OB zu Beginn des Abends an die Ereignisse der Jahre 1989/90 erinnert. "Wir haben immer ein bisschen von der Einheit geträumt, aber kaum einer hat daran geglaubt", sagte Lehmann im Hinblick auf den 17. Juni, den früheren Feiertag. Selbst im Oktober des Jahres 1989 seien die wenigsten auf so große Veränderungen gefasst gewesen. Der Prozess zur Einheit sei nicht einfach, räumte Lehmann ein: "Aber wir haben dennoch allen Grund zum Feiern."

Ganz anders dagegen Brussig: "Was an der deutschen Einheit schief gelaufen ist, das ist gleich zu Anfang schief gelaufen." Daran lasse sich auch heute nichts mehr korrigieren. "Durch die Einheit hat sich im Osten praktisch alles, im Westen praktisch nichts geändert", betonte der Schriftsteller in seinem Rückblick auf die "nationale Besoffenheit" im Oktober 1990. Das Wort Wiedervereinigung vermeide er. Er wolle niemanden angreifen, sondern nur klarstellen, dass die deutsche Einheit nicht nur ein Thema für die "Ossis" sei, sondern für alle Deutschen.

Die Einheit ist nach Brussigs Auffassung einher gegangen mit einem klaren "Verfassungsbruch", wie er es nannte. Denn vor allem der Geist der Präambel und des Schlussartikels des Grundgesetzes hätten für diesen Fall eine ganz neue Verfassung vorgesehen – damit also eine Art "eingebaute Selbstvernichtung".

Brussig kritisierte in seinem Vortrag besonders die immer noch stark differierenden Lebensverhältnisse in Ost und West. Die Arbeitslosenquote in den neuen Bundesländern sei immer noch etwa doppelt so hoch wie in den alten. Von den Vorstandsvorsitzenden der 30 Dax-Unternehmen sei kein einziger aus dem Osten, und auch bei den Richtern des höchsten Gerichts sind laut Brussig "die Westdeutschen unter sich". Nur in Kunst und Politik hätten Ostdeutsche gute Chancen.

Was die Lebensqualität in der Bundesrepublik angehe, würden einer Studie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zufolge die ersten 70 Plätze ausschließlich von westdeutschen Städten und Landkreisen belegt. Dass 13 Prozent der Deutschen die Mauer wieder haben wollen, beunruhige ihn nicht: Auch einer von acht Polen, Mexikanern oder Japanern sei ein "politischer Blindgänger", so Brussig.

"Die prägende Erfahrung vieler Ostdeutscher ist der Bruch", betonte Brussig: Das Leben teile sich in ein früher und jetzt. Wer einmal den Zusammenbruch eines für die Ewigkeit konzipierten Systems erlebt habe, betrachte auch das jetzige nicht als endgültig, sondern als etwas Zerbrechliches. "Für mich wird der Westen nie eine gewisse Exotik verlieren", räumte der Autor ein.

Mit der Haltung vieler Deutscher zur Integration ging Brussig scharf ins Gericht. "Solange wir zumindest in Gedanken von jemandem die Vorlage seines Ariernachweises verlangen, bevor wir bereit sind, ihn als Deutschen zu bezeichnen, wird das mit der Integration nichts", sagte er unter Hinweis auf viele Migranten, deren Integration eigentlich als geglückt betrachtet wird. Man dürfe beim Thema Einheit nicht immer nur alleine an Ost- und Westdeutsche denken. Erst wenn am 3. Oktober in Ingolstadt auch einmal ein "arabischstämmiger deutscher Dramatiker oder ein türkischstämmiger Bundestagsabgeordneter" spreche, wäre wieder ein zumindest kleiner Schritt in Richtung Einheit getan.