Ingolstadt
Wegen Fluchthilfe acht Monate in den Stasi-Knast

15.01.2010 | Stand 03.12.2020, 4:20 Uhr

Eine typische Zelle im ehemaligen DDR-Gefängnis Hohenschönhausen: Helmut Fürnrieder trug sogar die gleichen Pantoffeln. - Foto: oh

Ingolstadt (DK) Er wollte seinen Verwandten aus Ostberlin helfen und kam dafür in ein DDR-Gefängnis: Nach einem gescheiterten Fluchtversuch wurde Helmut Fürnrieder acht Monate im Stasi-Knast Hohenschönhausen inhaftiert. Nach 45 Jahren bricht der Ex-Chef der MVA Ingolstadt erstmals sein Schweigen.

Ostersonntag 1965, Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße im geteilten Berlin: Nach Einbruch der Dunkelheit steht ein VW-Käfer mit Helmut Fürnrieder und drei angeblichen Westbesuchern vor den streng bewachten Grenzanlagen an der Mauer. Das Quartett will vom Ostteil der Stadt in den freien Westen. Nach stundenlangen, peinlich genauen Untersuchungen keimt in Fürnrieder ein schrecklicher Verdacht: "Es war so, als hätte man uns schon erwartet", erzählt der heute 69-Jährige.

Bei anhaltendem Nieselregen muss er sein Auto ausräumen und teilweise sogar selber demontieren. Mit vorgehaltener Schusswaffe zwingen die schwer bewaffneten Grenzer den Ingolstädter sowie seinen Ostberliner Schwager Peter Brandt, dessen Frau Inge und die kleine Tochter Britta, bis Mitternacht im Freien auszuharren. Es folgen erste Verhöre in der Grenzstation, dann die offizielle Verhaftung und weitere Befragungen die ganze Nacht über. Nach einem Teilgeständnis werden die Flüchtlinge Haftrichter, Staatsanwalt und Staatssicherheit vorgeführt und schließlich in den Stasi-Knast Hohenschönhausen überstellt: Das Ende eines gescheiterten Fluchtversuchs.

Verrat durch Behörden?

"Ich habe jahrelang Zeit gehabt, zu überlegen, warum die Flucht schief gegangen ist", sagt der langjährige Bezirksausschussvorsitzende von Friedrichshofen und Chef der Müllverbrennung Ingolstadt: "Denn für mich war sie perfekt." Heute vermutet er stark, dass westdeutsche Behörden damals, also zu Hochzeiten des Kalten Krieges, bereits von der DDR infiltriert waren. Beweisen kann er es freilich nicht.

Fast 45 Jahre hat Helmut Fürnrieder über seine Verhaftung und die über achtmonatige Inhaftierung im berüchtigten Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen geschwiegen. "Nur im engsten Familienkreis habe ich darüber gesprochen, und da nur bruchstückhaft. Die ganze Geschichte wollte keiner hören", sagt er. Als er unlängst eine Busreise nach Berlin unternahm, stand auch ein Besuch der heutigen Gedenkstätte auf dem Programm. Und das war für Fürnrieder der Anlass, seine damaligen Erlebnisse aufzuschreiben und darüber zu reden: "Das war wie ein Befreiungsschlag."

Fürnrieder spricht konzentriert, erinnert sich an viele Details und antwortet überlegt auf jede Frage. Er wirkt abgeklärt, hat die Ereignisse verarbeitet. Doch wenn er ins Erzählen kommt, scheint es so, als wäre es erst gestern gewesen. "Ich war schon immer ein abenteuerlustiger Kerl", sagt der Älteste von fünf Geschwistern. Nach Abschluss des Studiums als Bauingenieur arbeitet er in München und heiratet im Januar 1964 seine erste Frau Monika. Nach mehreren Besuchen bei Schwager Peter Brandt und Familie in Ostberlin reift Anfang 1965 schließlich der Plan zur Fluchthilfe.

"Ein Motiv war die Zusammenführung der Familie", erinnert sich Fürnrieder. Er besorgt sich Pässe von ähnlich aussehenden Verwandten der Brandts, die bereits in Ingolstadt leben, und fälscht mit beweglichen Lettern aus den Setzkästen einer Druckerei DDR-Stempel. "Ich habe sogar Quittungen, Belege, Etiketten und Kleider aus dem Westen besorgt, um die drei Ostberliner überzeugend als Westler ausgeben zu können", erzählt Fürnrieder.

Am Karfreitag 1965 fährt er mit seinem VW-Käfer über die DDR nach Ostberlin – mit allen erforderlichen An- und Abmeldungen für vier West-Besucher im Osten. Am Karsamstag lösen die Brandts ihren restlichen Haushalt auf und schicken Dokumente und Wertgegenstände in zwölf Paketen von verschiedenen Ostberliner Postämtern an mehrere Westadressen. Dann die Katastrophe: Am Ostersonntag endet der sorgsam geplante Fluchtversuch im Stasi-Knast Hohenschönhausen.

"Das war ein ganzer Stadtteil", erinnert sich Fürnrieder. Der Tagesablauf ist streng geregelt: Wecken um 5 Uhr, Toilette in der Zelle, Wasser über einen Schlauch von außen, Frühstück, etwas Freigang, Mittagessen, Abendessen, ab 21 Uhr schlafen bei voller Beleuchtung. "Die Mahlzeiten gab es in einem Plastiktopf ohne Messer und Gabel. Alles war klein geschnitten und mit dem Löffel zu essen", sagt er. Er kann die paar Meter in der Zelle hin- und hergehen oder sich setzen – mehr ist nicht. "Anfangs war Lese-, Schreib- und Liegeverbot", weiß er noch heute, die Zellen werden Tag und Nacht bewacht.

"Die Vernehmungen waren die einzige Abwechslung", sagt Fürnrieder. Monatelang wird er verhört, stundenlang, zu allen Tages- und Nachtzeiten, und immer ohne Anwalt. Abgesehen von den Stasi-Leuten sieht er monatelang keinen Menschen. "Wenn auf dem Gang einer gekommen ist, haben die mich schnell in eine leere Zelle gebracht", so Fürnrieder. Seine Vernehmer unterstellen ihm "gewerbliche Fluchthilfe" und sind an den vermeintlichen Hinterleuten interessiert.

Gut und böse

"Die wollten einfach alles wissen", erinnert sich Fürnrieder. Sie tragen keine Namen und treten stets zu zweit auf. "Da gab es immer den Guten und den Bösen", erzählt er. Während der eine droht, hält sich der andere im Hintergrund, um später, alleine mit dem Untersuchungshäftling, an dessen Einsicht zu appellieren und Vertrauen aufzubauen. Und dann, ganz allmählich, beginnt nach einigen Wochen etwas, das Fürnrieder als "eine Art Gehirnwäsche" bezeichnet.

"Man verinnerlicht die Terminologie und die Phrasen", räumt er ein. Der bis dahin völlig unpolitische junge Mann spricht auf einmal vom "antiimperialistischen Schutzwall" und bezeichnet die DDR als den besseren deutschen Staat. "Man will das alles auch glauben", sagt er heute – und im Gegenzug auch glaubwürdig sein. Denn nach passenden Aussagen, nach "Reue" über angebliche verwerfliche Taten und später "Einsicht über die Notwendigkeit der Mauer" wird der Untersuchungshäftling belohnt. Er darf als Häftling in Hohenschönhausen lesen, Briefe schreiben und sich tagsüber auch mal auf die Pritsche legen, während in Ingolstadt zur gleichen Zeit in Abwesenheit des Vaters Tochter Elke zur Welt kommt.

Im Herbst 1965 dann die Gerichtsverhandlung. "Ich habe mit sechs, acht Jahren Gefängnis gerechnet", sagt Fürnrieder. Doch ein Urteil wird nie gefällt, weil der Staatsanwalt immer wieder Einspruch einlegt. Und dann die große Überraschung: Nach gut acht Monaten wird Fürnrieder freigelassen. Ende November 1965 wird er zusammen mit anderen Häftlingen ohne rechtsgültiges Urteil in die Bundesrepublik abgeschoben. "Eine Woche nach mir sind dann mein Schwager und seine Frau in den Westen gekommen", erinnert er sich – allerdings zunächst ohne deren Tochter Britta, die nach großen Schwierigkeiten erst im August 1966 ihre Eltern wiedersieht.

Freikauf durch BRD

"Dass wir von der Bundesregierung freigekauft worden sind, haben wir erst später erfahren", sagt Fürnrieder. Eingefädelt hat das Geschäft der bekannte Ostberliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der über Jahre hinweg den Häftlingsfreikauf organisiert hat. Damit ist das wohl aufregendste Kapitel im Leben des Helmut Fürnrieder abgeschlossen – wenngleich "noch einige Geschichten hinter der Geschichte" der Erzählung harren.