Ingolstadt
Süßes für die armen Seelen

29.10.2010 | Stand 03.12.2020, 3:31 Uhr

Blumen aus Marzipan und Verzierungen mit flüssiger Schokolade -– Konditormeister Fritz Wiedamann demonstriert die Herstellung eines Allerheiligenspitzes, wie es ihn nur in Ingolstadt gibt. - Foto: Herbert

Ingolstadt (DK) Allerheiligen – für viele junge Leute nicht viel mehr als der Tag nach Halloween, dieser mit viel Klamauk verbundenen Gruselnacht. Wobei auch deren Name vom Feiertag zum Gedenken an die Toten herrührt (All Hallows’ Eve).

Kritiker monieren den zunehmenden Kommerz? um diesen ursprünglich als Vorabendfest des katholischen Allerheiligen gedeuteten Brauch. Doch mit Süßem ist der Feiertag am 1. November auch nach altbayerischer Tradition verbunden. In Ingolstadt ist das jedoch völlig in Vergessenheit geraten.

Die Rede ist vom Allerheiligenspitz. Doch Spitz ist nicht gleich Spitz. In vielen Ortschaften in der Region gibt es ihn als Hefegebäck in Zopfform geflochten, meist mit Puderzucker bestreut. In Ingolstadt dagegen war eine völlig andere Art verbreitet: eine reich verzierte Torte in Form eines Schiffsrumpfes. "Meine Großeltern wohnten bis 1987 in Ingolstadt", schrieb eine 49-jährige Nürnbergerin kürzlich an den DK. Sie und ihre Schwester erinnern sich gerne an Kinderzeiten in der Schanz und daran, dass "unsere Oma uns zu Allerheiligen immer ein Tortenstück geschenkt hat, welches sich ,Spiez’ nannte." Dabei müsse es sich um einen Ingolstädter Brauch handeln, denn im Mittelfränkischen gebe es ein solches Geschenk an Kinder nicht, mutmaßt die Frau.

Der Allerheiligenspitz in Tortenform scheint in der Tat nur in Ingolstadt zu finden sein, wie Gisela Haußner sagt. Die in Preith lebende 53-Jährige hat sich als Brauchtumswartin des Trachtenvereins Eichstätt intensiv mit traditioneller Bäckerei im kirchlichen Jahreskreis befasst. Im Heilig-Geist-Spital, wo sie als Fachkraft in der Gerontopsychiatrie arbeitet, thematisiert sie solche Dinge immer wieder, um die alten Menschen anzusprechen. "Die meisten erinnern sich tatsächlich noch an diesen Brauch", erzählt sie. Die gebürtige Kipfenbergerin kennt den Allerheiligenspitz aber nur als Hefezopf. "So habe ich das als Kind kennengelernt und gebe es an meine Kinder weiter." Mitunter finde man auch Varianten mit Kümmel, Mohn oder Sesam.

Gisela Haußner weiß um die Hintergründe dieser Tradition. "Im Glauben, dass die armen Seelen der Verstorbenen in der Nacht zu Allerheiligen an ihre frühere Wohnstätte zurückkehren, sind einige dieser Hefezöpfe draußen auf die Fensterbank gelegt worden. Sie sollten Wegzehrung sein zwischen Menschen- und Totenreich." Tatsächlich war das Naschwerk tags darauf verschwunden. Mit Geistern hatte dieses Phänomen freilich wenig zu tun. Die Erklärung ist banal: "Alte und arme Leute haben die Hefezöpfe eingesammelt und gegessen, damit sie zwischendurch wieder einmal etwas Ordentliches bekommen haben", weiß die Brauchtumspflegerin. Im Gegenzug hätten die Armen für die Verstorbenen gebetet, um deren Zeit im Fegefeuer abzukürzen. Die übrigen Allerheiligenspitzerln seien am Feiertag selbst nach dem obligatorischen Friedhofbesuch vertilgt worden. Weshalb aber haben die Ingolstädter – anders als in der übrigen Region – kleine Torten statt der Hefezöpfe gebacken? "Ich kann mir das nicht wirklich erklären."

Eine Antwort darauf gibt Eva Tögl, ihres Zeichens für die Brauchtumspflege im Donaugau-Trachtenverband zuständig. "Die Stadtleute waren wohlhabender als die Menschen auf dem Land und wollten es einfach aufwendiger – man hat’s sich ja leisten können. Mitunter ist es auch in einen Wettbewerb unter Nachbarn und Verwandten ausgeartet: Wer serviert die schönsten und größten Allerheiligenspitzl" Neben der Bedeutung mit den "armen Seelen" kennt Eva Tögl noch eine weitere. "Die Kinder haben das von ihren Taufpaten geschenkt bekommen."

Was früher bald jede Hausfrau in Heimarbeit selber anfertigte, fand sich nach dem letzten Krieg zunehmend in den Auslagen der Bäcker und Konditoren. Heutzutage sind die reich verzierten Torten nach Ingolstädter Art zu Allerheiligen aber kaum noch im Sortiment der Zunft – und wenn, dann kennt der Kunde oft den Zusammenhang nicht mehr. Konditor Wolfgang Erhard bietet den Allerheiligenspitz als einer der wenigen weiter an, sowohl als Hefegebäck als auch in der Ingolstädter Variante. "Wir diskutieren oft in der Familie darüber, auch weil wir die Tradition aufrecht erhalten wollen", sagt er. "Da hilft sogar mein Vater, der sich sonst aus dem Geschäft zurückgezogen hat, in der Backstube mit." Erhard bedauert es, dass viele Ingolstädter den Hintergrund dieses Brauchs nicht mehr kennen.

Einer, für den der Allerheiligenspitz in seiner Ausbildung noch zum Pflichtprogramm gehörte, ist Fritz Wiedamann. "Es ist aber schon lange nicht mehr danach gefragt worden, zuletzt vor fünf Jahren von einer Geschäftsfrau." Früher, bis etwa in die 1990er-Jahre, habe er diese Torten blechweise zum 1. November hergestellt, erzählt der 68-jährige Konditormeister. Auf Anfrage des DK zaubert er schnell einmal einige der süßen Versuchungen: Er tränkt Biskuitmasse mit Rumpunsch, füllt sie mit Aprikosenkonfitüre, versieht sie mit einer Puderzuckerglasur und kommt dann zum Wichtigsten: "Der Spitz muss reichlich verziert sein, mit Schokolade, kandierten Früchten oder Marzipanrosen. Da hat es früher richtige Künstler in unserem Beruf gegeben." Wiedamann hat nach 15 oder 20 Jahren Allerheiligenspitz-Abstinenz offenbar nichts verlernt. Mit flinken, routinierten Bewegungen trägt er die Verzierungen aus flüssiger Schokolade auf, gerade so, als er hätte er das erst gestern zuletzt gemacht. Seine süßen Spitzerl werden im Verkaufstresen sicher nicht lange auf Käufer warten müssen. Wobei die Kunden wohl weniger die armen Seelen als vielmehr ihr eigenes Wohlbefinden im Sinn haben werden.