Ingolstadt
Dokumente der Verzweiflung

Mordprozess: Aufzeichnungen bezeugen Anastasias zunehmende Isolierung

17.01.2017 | Stand 02.12.2020, 18:47 Uhr
Symbolbild Gericht −Foto: David-Wolfgang Ebener/dpa

Ingolstadt (DK) Der Mordfall Anastasia - und die Beweisaufnahme will kein Ende nehmen. Am 20. Verhandlungstag hat das Schwurgericht gestern abermals Chatverläufe und Aufzeichnungen der getöteten jungen Frau betrachtet, die zuletzt zunehmend verzweifelt über ihre Isolation gewesen zu sein scheint.

Schon vor einer Woche, beim vorletzten Termin, waren von den Richtern Hunderte Texte verlesen worden, die das Opfer und der wegen Mordes angeklagte 25-jährige Soldat im Spätsommer und Herbst 2015 über den Handy-Messengerdienst WhatsApp ausgetauscht hatten. Stets war es Anastasia darum gegangen, den Freund, den sie offenbar für den Vater ihres ungeborenen Kindes hielt, zu treffen und zur gemeinsamen Wohnungssuche zu bewegen. Der junge Mann war aber stets ausgewichen, hatte die schwangere Freundin ein ums andere Mal vertröstet.

Nachdem Vorsitzender Jochen Bösl gestern auch die restlichen Messengertexte bis zu Anastasias Todestag (29. November 2015) verlesen hat, bleibt für Prozessbeobachter (und vermutlich auch für das Gericht) nur der Schluss, dass Opfer und Angeklagter sich zwischen dem 5. September 2015 und dem Tattag - mithin fast ein Vierteljahr - wohl nicht mehr gesehen haben. Dennoch hatte Anastasia in ihren Botschaften fast täglich ihre Hoffnung ausgedrückt, dass sich nun bald ein Treffen ergeben könnte - Zeichen eines reinen Wunschdenkens, ja eines zunehmenden Realitätsverlustes?

Wie verzweifelt die 22-Jährige über ihre Lage gewesen sein muss, erschließt sich auch durch ein Schriftstück, das dem Gericht zwar nicht vorliegt, von dem aber ihre gestern nochmals als Zeugin gehörte Mutter berichtete: Als die Familienangehörigen im Dezember 2015 Anastasias Habseligkeiten aus ihrer Notunterkunft an der Feldkirchener Straße abholten, fiel ihnen angeblich auch eine Art Brief in die Hände, den Anastasia wohl kurz vor ihrem Tod an ihren (längst verstorbenen!) Vater gerichtet hatte.

In der Aufzeichnung ging die junge Frau demnach auf die solide familiäre Situation ihrer Geschwister ein, die teils bereits verheiratet waren und in bürgerlichen Verhältnissen lebten. Demgegenüber sah sich Anastasia offenbar in einer Verliererrolle - und hatte sicher auch allen Grund dazu: Sie stand relativ kurz vor der Entbindung (siebter Monat), hatte keinen zu ihr stehenden Partner und war nach wie vor von Wohnungslosigkeit bedroht. Denn die Notunterkunft hatte ihr die Stadt wohl nur begrenzt zur Verfügung gestellt. Das Sozialamt mache Druck, hatte Anastasia am 19. November dem jungen Soldaten geschrieben - ohne dass der sich in seinen Antworten anmerken ließ, ernsthaft an den Nöten seiner Freundin teilzuhaben.

Wenn der Angeklagte wirklich in den rund drei Monaten vor Anastasias Tod keinen persönlichen Kontakt zu ihr gehabt haben sollte, stellt sich allerdings umso mehr die Frage, wann denn überhaupt jene eindeutig vom Opfer stammenden Blutspuren, die von den Ermittlern an einem seiner Pullover gefunden wurden, dorthin gekommen sind.

Da der junge Mann seit seiner Verhaftung beharrlich schweigt, in einer Verteidigererklärung zu Prozessbeginn den Mordvorwurf aber zurückgewiesen hat, könnte dies nur bedeuten, dass das Blut weit zuvor - aus welchem Grund auch immer - an die Kleidung gelangt sein und dass diese dann - wiederum aus nicht bekannten Gründen - so lange nicht gereinigt worden sein müsste. Alles in allem wohl ein zentraler Punkt in diesem Indizienverfahren, der sicher in den für Februar erwarteten Plädoyers erörtert werden dürfte. Die Verteidigung hat sich bislang auf den Standpunkt gestellt, dass eine nicht datierbare Blutanhaftung eben keinen Beweis für die Täterschaft darstellen kann.

Das Gericht hat gestern für weitere Aufzeichnungen zu Kommunikationsspuren aus dem Handygebrauch von Angeklagtem und Opfer das sogenannte Selbstleseverfahren angeordnet. Das bedeutet, dass die Prozessbeteiligten Einblick in sämtliche dem Gericht vorliegenden Protokolle zu Telefonverbindungsdaten nehmen können und dass diese Daten dann im Prozess nicht öffentlich verlesen werden müssen.

Die Strafkammer hat von der Kripo jetzt auch Angaben zu jenen Wegstrecken vorliegen, die das Opfer und der mutmaßliche Täter in der Tatnacht zum 29. November zwischen Anastasias Notunterkunft und dem späteren Fundort der Leiche am Donau-Ufer bei der Gerhart-Hauptmann-Straße nachweislich der Handyortungsdaten und der Fährtenhundespuren zurückgelegt haben dürften. Aus den Vermessungsdaten - so hofft die Kammer - können nun die minimalen und maximalen Wegzeiten, die zum Tatort und zurück benötigt worden sein dürften, errechnet werden. Noch ein Puzzlestück zum schemenhaften Gesamtbild.