Ingolstadt
"Es zählt nichts mehr als die Wahrheit"

Ein 16-Jähriger wird in Handschellen aus dem Gerichtssaal geführt – dabei ging es nur um ein Fahrrad

22.04.2014 | Stand 02.12.2020, 22:47 Uhr

Ingolstadt (DK) Wenn ein Zeuge während der Gerichtsverhandlung in Handschellen abgeführt wird, noch dazu, wenn er erst 16 Jahre alt ist, dann muss etwas Außergewöhnliches passiert sein. Dabei ging es vor dem Amtsgericht Ingolstadt doch eigentlich nur um ein Fahrrad. Mehr oder weniger.

Die Ausgangslage ist so einfach wie unstrittig: Ein 16-Jähriger aus einer Gemeinde im Landkreis Eichstätt hat zwischen 21. und 29. Juli vergangenen Jahres am Bahnhof in Eichstätt ein Fahrrad gestohlen, um damit heimzukommen. Das hatte er schon bei seiner Verhandlung zugegeben, den dafür verhängten Jugendarrest hat er auch schon verbüßt. Nun saß aber derjenige auf der Anklagebank, dessen Vater das Fahrrad im Oktober der Polizei übergeben hatte – womit alles, zumindest juristisch gesehen, begann.

 

DIE ERSTE VERSION:

Die Version, die der 26-Jährige, dem die Anklage Hehlerei vorwirft, jetzt vor dem Amtsgericht erzählte, geht in etwa so: Er habe eines Tages den 16-Jährigen sowie einen 21-Jährigen – alle drei aus dem selben Ort – getroffen, und schließlich sei der 21-Jährige mit dem Fahrrad, das der andere Jugendliche schon öfter dabei gehabt habe und von dem er nicht gewusst habe, woher es stammt, nach Hause gefahren. Als dieser dann irgendwann weggezogen sei, habe er ihn gebeten, das Fahrrad abzuholen – was er dann auch nach einiger Zeit zusammen mit seinem Vater getan habe. Doch schon bald sei ihnen die Sache komisch vorgekommen – woraufhin der Vater das Fahrrad zur Polizei gebracht habe.

„Das haben Sie aber auch schon mal anders gesagt“, sagte Richterin Sandra von Dahl. Im Protokoll der Verhandlung gegen den 16-Jährigen hätte gestanden, dass er das Fahrrad bei dem Angeklagten abgeholt hatte – das bestritt der 26-Jährige nun. Da müsse es sich um einen Fehler handeln.

Der Polizist, der den Fall damals bearbeitet hatte, erklärte dann, von dem Dritten gar nichts gehört zu haben. Er wisse nur von den beiden Beteiligten. Die Aussage, der damals als Zeuge Vernommene habe erklärt, er habe das Fahrrad vom 16-Jährigen, konnte allerdings nicht verwertet werden – Richterin, Staatsanwalt Ingo Christ und Verteidiger Udo Reissner waren sich einig, dass der Polizist den jungen Mann damals zwar als Zeugen aber nicht als Beschuldigten, für den er ihn offenbar hielt, belehrt.

 

DER GROSSE AUFTRITT:

Nun kam der Auftritt des 16-Jährigen: Er erklärte, den 26-Jährigen zufällig getroffen zu haben und ihm das Fahrrad angeboten zu haben, da er es nicht brauche. „Ich hatte ihm nicht gesagt, dass es gestohlen war“, sagte er. Dennoch habe er den anderen gebeten, das Rad wieder zurückzubringen.

„Da haben Sie der Polizei aber was anderes gesagt“, sagte die Richterin. „Aber nicht unterschrieben“, antwortete der Jugendliche. „Das kann ich Ihnen trotzdem vorhalten“, sagte Sandra von Dahl. Er habe damals bei der Vernehmung erklärt, dem jetzt Angeklagten mitgeteilt zu haben, dass er das Fahrrad aus Eichstätt mitgenommen habe. Deswegen sitze der andere schließlich auch jetzt auf der Anklagebank, und da er sich schon einiges andere zuschulden kommen ließ, könnte eine Verurteilung in dem Fall auch alles andere als glimpflich für ihn ausfallen.

„Das ist so lange her“, sagte der 16-Jährige. „Naja, so lange auch nicht – es sei denn, Sie klauen ständig Fahrräder“, sagte die Richterin süffisant. „Nein, nur das eine Mal“, erklärte der Jugendliche, der dann meinte: „Ich habe gesagt, das habe ich am Bahnhof mitgenommen. Das ist meines.“

Staatsanwalt Ingo Christ schaltete sich ein: „Das ist doch widersinnig. Da passt doch die Aussage bei der Polizei doch viel besser.“ Die Richterin stimmte ihm zu: „Das macht dann doch auch keinen Sinn, dass Sie ihm sagen, er soll es zurückgeben.“

Nachdem der Staatsanwalt erklärt hatte, er werde eine mögliche Falschaussage gerichtlich verfolgen, variierte der Jugendliche seine Aussagen, mal erklärte er, der andere habe nach der Herkunft des Fahrrades gefragt, mal, dass es nicht so gewesen sei.

 

DER WIDERRUF:

Dann sagte der 16-Jährige schließlich, die Aussage damals bei der Polizei sei falsch gewesen. „Ich dachte, ich komme besser weg, wenn ich das sage.“ Er habe in Wahrheit erklärt, dass das Fahrrad ihm gehöre und er es vom Bahnhof abgeholt habe. Die Richterin sagte: „Ist dir klar, dass du ihn damit entlastet, du dich aber damals der Straftat der falschen Verdächtigung schuldig gemacht hast, die noch verfolgt wird? Überlege dir gut, ob du dabei bleiben willst.“ Der 16-Jährige überlegte kurz und sagte dann: „Zu den falschen Verdächtigungen – wie lange ist das verfolgbar“ Verblüfft sagte der Staatsanwalt: „Wir machen jetzt keine Zwischenberatung, welche Aussage sich mehr lohnt. Es zählt nichts mehr als die Wahrheit.“ Der junge Mann bat um eine Unterbrechung – um sich zu sammeln.

Doch offenbar nutzte er die Gelegenheit, sich mit dem anderen Zeugen, dem 21-Jährigen zu unterhalten – was vor Gericht verboten ist. Als Staatsanwalt und Richterin davon erfuhren, riefen sie schnell wieder alle herein und erklärten dem 16-Jährigen, dass er sich gerade auf sehr dünnem Eis bewege. Doch der Jugendliche hielt an seiner letzten Aussage fest.

Daraufhin wurde seine Vernehmung unterbrochen und der Vater des 26-Jährigen hereingeholt. Der erklärte, er und sein Sohn hätten das Rad bei dem 21-Jährigen abgeholt – nach kurzer Zeit sei ihnen die Sache komisch vorgekommen, weswegen sie das Rad zur Polizei bringen wollten. Der 21-Jährige bestätigte kurz darauf die Version. Damit war der Angeklagte der einzige, der erklärt hatte, das Rad nicht vom 16-Jährigen bekommen zu haben.

 

DER SCHLUSSAKT:

Inzwischen hatten im Zuschauerraum zwei Polizisten Platz genommen. Und der Jugendliche nahm wieder im Zeugenstand Platz. „Letzte Chance“, sagte der Staatsanwalt. Der 16-Jährige sagte nur: „Ja, wie ich’s gesagt habe.“ Daraufhin kamen die Polizisten nach vorne legten ihm Handschellen an und führten ihn ab – vorläufige Festnahme wegen des Verdachts der Falschaussage. Die Verhandlung wird nun am heutigen Mittwoch fortgesetzt. Zwei weitere Zeugen, denen der 16-Jährige möglicherweise auch sein Fahrrad angeboten hat, sollen dann noch gehört werden, bevor es ein Urteil gibt.