Ingolstadt
"Es tut mir wirklich weh"

Ingolstädter Türken und Kurden verurteilen Anschlag in Ankara mit rund 100 Todesopfern

12.10.2015 | Stand 02.12.2020, 20:41 Uhr

Rund 300 Türken demonstrierten Mitte September in Ingolstadt gegen Aktionen der kurdischen Arbeiterpartei PKK in ihrer Heimat. „Das war im Gegensatz zu Ankara eine friedliche Veranstaltung“, sagt Migrationsrätin Nesrin Bal - Foto: Eberl

Ingolstadt/Ankara (DK) Rund 2500 Kilometer liegen zwischen Ingolstadt und Ankara. Doch hier herrscht – sowohl in der türkischen als auch in der kurdischen Gemeinde – gleichermaßen große Bestürzung über den Doppelanschlag auf eine Demonstration am Samstag in der Hauptstadt der Türkei.

Wer ist verantwortlich für den Tod von knapp 100 Menschen beim Anschlag auf die regierungskritische Friedenskundgebung? Diese Frage beschäftigt die Ingolstädter Bürger mit türkischen und kurdischen Wurzeln am meisten – die da ganz unterschiedlicher Ansichten sind. „Es ist schon komisch, dass sich die Attentate seit Juni verschärft haben“, sagt Eray Erdogan, stellvertretender Vorsitzender der Alevitischen Gemeinde in Ingolstadt, die einer islamischen Glaubensrichtung entstammt, der sowohl Kurden als auch Türken angehören. Im Juni war die Oppositionspartei HDP, die am Samstag zu der Demonstration aufgerufen hatte, als erste prokurdische Partei überhaupt ins türkische Parlament eingezogen, wodurch die AKP um Präsident Recep Tayyip Erdogan die absolute Mehrheit verfehlte. Nach erfolglosen Koalitionsverhandlungen rief dieser für den 1. November Neuwahlen aus. Die Aleviten in Ingolstadt haben Eray Erdogan zufolge deshalb das Gefühl, dass die türkische Regierung den Anschlag zwar nicht verübt hat, aber stillschweigend hinnimmt. „Sie wollen die Ungewissheiten ausnutzen, um wieder die ganze Macht zu bekommen“, vermutet Erdogan, schränkt aber gleich ein: „Es gibt genug kluge Menschen in der Türkei, die das nicht zulassen werden.“

Auch Hakan Sirt glaubt nicht, dass die türkische Regierung hinter dem Anschlag steckt. Präsident Erdogan töte nicht sein eigenes Volk. „Das war eine Terrororganisation, die Ankara mitten ins Herz getroffen hat“, sagt der Migrationsrat. Konkret vermutet er den Islamischen Staat als Drahtzieher. „Von der Methode her denke ich, dass das ISIS war.“

Faris Karwan sieht das anders. Der aus dem Nordirak stammende Imbissbesitzer mutmaßt anlässlich der anstehenden Wahlen, dass die türkische Regierung am Anschlag beteiligt war. „Die Menschen aus den Dörfern müssen zum Abstimmen in die Stadt gehen. Jetzt haben sie zu viel Angst dazu.“ Trotzdem hofft der Kurde, dass Präsident Erdogan mit dieser Strategie keinen Erfolg haben wird: „Er wird gewinnen. Aber ich wünsche mir, dass er nicht so hoch gewinnt.“

Unabhängig von der Schuldfrage wird der Anschlag von Türken und Kurden aufs härteste verurteilt. „Es tut mir wirklich weh“, sagt Karwan, der seit 20 Jahren in Deutschland lebt. „Es sind so viele unschuldige Menschen gestorben, und ich denke, dass es noch schlimmer wird.“ Die Aleviten zündeten am Sonntag in ihrem Gebetshaus eine Kerze für den Frieden an. „Wir sind entsetzt“, sagt Eray Erdogan. „Das war eine Friedenskundgebung. Und darauf verüben Menschen mit politischen Ideologien feige Anschläge, weil sie demokratische Zusammenkünfte nicht akzeptieren.“ Auch Nesrin Bal ist traurig. „In der türkischen Gemeinde herrscht jetzt große Unruhe“, berichtet die Migrationsrätin, die in Deutschland geboren wurde und als Industriekauffrau arbeitet.

Dass der Konflikt das Zusammenleben der Türken und Kurden in Deutschland stören wird, befürchten Bal und Sirt nicht. Letzterer sieht sich in der Verpflichtung, das Gegenteil zu beweisen: „Wir müssen zeigen, dass Kurden, Türken und Christen gemeinsam in einem Land leben können.“ Er sei deshalb ständig in Kontakt mit anderen ausländischen Gemeinden. Bal dagegen sieht zwar Konfliktpotenzial zwischen den einzelnen Gruppen. Doch auch sie pocht auf gewaltfreie Lösungen. „Wir hatten hier erst eine Demo gegen Terroranschläge“, spielt sie auf die Kundgebung Mitte September an, bei der rund 300 Türken gegen die Aktionen der kurdischen Arbeiterpartei PKK in ihrer Heimat demonstrierten. Aber die sei schließlich friedlich verlaufen. „Frieden, Frieden, Frieden“ sei auch das, was sie sich für ihr Land erhoffe.

Genau wie Faris Karwan: „Ich will den Fernseher anschalten und gute Nachrichten hören, und nichts über Krieg.“ Die Aleviten, deren Glaubensbrüder in der Türkei selbst vielerorts unter Diskriminierung leiden, erwarten dasselbe. „Wir wünschen uns, dass die Vielfalt an Kulturen und Religionen gleich gerecht behandelt wird“, betont Erdogan. „Außerdem muss Demokratie tatsächlich und tatkräftig ausgeübt werden.“