Ingolstadt
Ärzte und Verbrecher

Sonderausstellung im Medizinhistorischen Museum beleuchtet die Abgründe der Medizin im NS-Reich

22.02.2018 | Stand 02.12.2020, 16:47 Uhr
Beklemmender Blick zurück: Die Ausstellung "Radiologie im Nationalsozialismus" im Deutschen Medizinhistorischen Museum an der Anatomiestraße ist seit gestern geöffnet. Sie dauert bis 9. September. −Foto: Hauser

Ingolstadt (DK) Im Deutschen Medizinhistorischen Museum ist seit gestern die Ausstellung "Radiologie im Nationalsozialismus" zu sehen. Sie beleuchtet Verbrechen deutscher Ärzte im "Dritten Reich" und zeigt den Einsatz der Röntgendiagnostik sowie der Strahlentherapie für die "Rassenhygiene" der Nazis.

Anna Huber hatte niemandem etwas getan. Dann brach das Böse über die junge Ingolstädterin herein. Sie konnte sich nicht wehren, keiner half ihr. Im Mai 1937 zeigte irgendjemand die 19-Jährige, die in einer Bäckerei in der Schulstraße arbeitete, wegen "angeborenen Schwachsinns" beim Erbgesundheitsgericht in Eichstätt an; so verlief in Ingolstadt während des "Dritten Reichs" der Dienstweg zur "Verhütung erbkranken Nachwuchses" wie die Nationalsozialisten eines ihrer rassistischen, pseudo-medizinisch begründeten und hemmungslos vollstreckten Gesetze zur "Gesunderhaltung des deutschen Volkes" nannten.

Anna Huber (die Forschung hat den Namen der jungen Frau geändert) wurde befohlen, sich zur Zwangssterilisierung in der Frauenklinik an der Münchner Maistraße einzufinden. Aber die 19-Jährige erschien nicht. Deshalb verfügten die Behörden die Zwangseinweisung. Am 14. Juli zerrten Ingolstädter Polizisten Anna Huber auf die Wache im Alten Rathaus und brachten sie tags darauf nach München, wo sie in Vollnarkose unfruchtbar gemacht wurde. Wochenlang lag sie von heftigen Schmerzen geplagt in der Klinik. Deutsche Ärzte haben das Verbrechen an der jungen Frau begangen; weil es die Nazis befahlen und sich ihre willfährigen Helfer diesem Terror nicht widersetzen. Aus Angst. Oder Überzeugung.

Anna Huber begann erst zu leiden, als Ärzte gegen ihren Willen Hand an sie legten. Deshalb sei sie keine Patientin im medizinischen Sinn gewesen, sagte Prof. Marion Ruisinger, die Leiterin des Deutschen Medizinhistorischen Museums, bei der Eröffnung der Ausstellung "Radiologie im Nationalsozialismus". Der Fall sei gut dokumentiert, weil die Krankenkasse wegen Anna Hubers langem stationären Aufenthalt Ärger machte, Stichwort Kostenübernahme. Mochten die Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch noch so unvorstellbar sein - der deutsche Verwaltungsapparat lief und lief und lief zuverlässig wie gewohnt.

Eine erschreckend hohe Zahl deutscher Forscher und praktizierender Ärzte war während der Herrschaft der Nationalsozialisten (1933 bis 1945) in Verbrechen verstrickt; als Anstifter, Ausführende, Assistenten. Sie nahmen in Konzentrationslagern grausame Menschenexperimente vor, bei denen Hunderte Häftlinge starben. Ärzte durchleuchteten im besetzten Polen auf der Jagd nach dem Tuberkuloseerreger Hunderttausende Menschen mit Röntgengeräten. Aber nicht, um Infizierte zu behandeln, sondern um sie zur Erschießung zu schicken. So starben 35 000 Polen. Die Verbrecher in Weiß missbrauchten auch die Strahlentherapie: Die Nazis ließen etwa 360 000 Frauen und Männer unfruchtbar machen, rund zwei Prozent davon mit Bestrahlung. Davon berichtet die Sonderausstellung im Anbau des Medizinhistorischen Museums: anschaulich, prägnant, fachlich fundiert, schonungslos.

"Radiologie im Nationalsozialismus" (zu sehen bis 9. September) erzählt noch eine Geschichte: Wie Tausende deutsche Ärzte jüdischen Glaubens drangsaliert, verfolgt, vertrieben und ermordet worden sind. Oder sie wählten den Freitod. Wie der Ingolstädter Dr. Rafael Luchs, ein angesehener Hausarzt. Er betrieb seine Praxis an der Mauthstraße. 1938, nach der "Reichspogromnacht", jagten ihn seine Mitbürger davon. Der Doktor starb kurz darauf an einer Überdosis Schlaftabletten. Um die Wanderausstellung mit Beispielen aus Ingolstadt zu erweitern, hat das Museumsteam auch Forschungsergebnisse des Ingolstädter Historikers Theodor Straub verwendet.

Die Eröffnungsfeier am Mittwochabend im Rudolf-Koller-Saal war sehr gut besucht. Rund 100 Besucher erlebten, wie der Ingolstädter Pianist Vardan Mamikonian Werke von Alban Berg, Igor Stravinsky und Felix Mendessohn spielte - Komponisten, deren Musik die Nazis als "entartet" diffamiert hatten.

Den Komplex Ärzte und Verbrechen im NS-Reich "in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit kurz zusammenzufassen, ist unmöglich", sagte Kulturreferent Gabriel Engert. Eine Annäherung führt auf ein Feld voller Dilemmata und elementarer Fragen: "Dürfen die Forschungsergebnisse aus der Zeit des NS-Reichs verwendet werden? Müssen sie es? Wie konnten so viele Ärzte und Wissenschaftler zu den verbrecherischen Handlungen verführt und angestiftet werden? Hier geht es auch um viel fehlgeleiteten Optimismus." In ganz Europa hätten Forscher einst die "Züchtung eines besseren Menschen über die Erblehre" betrieben.

Eine Frage lasse sich immerhin klar beantworten: Wenn der Mensch versuche, Schöpfer zu spielen, so Engert, "endet das immer in einer Katastrophe!"

Die Geschichte einer kollektiven Verdrängung

Ingolstadt (sic) Die medizinischen Fachverbände haben lange gebraucht, um die düstere Vergangenheit ihres Berufsstands zu erhellen und die Verbrechen ihrer Vorgänger offen zu benennen. Wie immunisiert gegen das Böse, das - auch im Namen der deutschen Ärzteschaft - in der Zeit der NS-Herrschaft geschehen ist, klammerten Verbände das unangenehme Thema aus; auf Kongressen, in den Universitäten oder in der Publizistik verloren die Kollegen offiziell kein einziges Wort darüber.

Doch die Mediziner waren nicht die einzige Berufsgruppe, der man eine ausgeprägte, viele Jahrzehnte währende Vergangenheits-Resilienz attestieren muss. Egal, ob Unternehmen, Kultur, Polizei, Justiz, Journalismus, Bildung, Kirchen oder Wissenschaft: In allen Sphären der Gesellschaft weigerte man sich lang, die NS-Zeit kritisch aufzuarbeiten; einige Standesvertreter plagen sich bis heute damit.

Auch die Deutsche Röntgengesellschaft und die Deutsche Gesellschaft für Radioonkologie haben das "Dritte Reich" lange erfolgreich umgangen. Was die Präsidenten beider Fachverbände bei der Eröffnungsfeier für die Ausstellung unverblümt zugaben. "Radiologie im Nationalsozialismus", ein Gemeinschaftswerk der Gesellschaften in Kooperation mit dem Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Heidelberg, ist daher eine Initiative, um die NS-Vergangenheit von Strahlentherapeuten und Radiologen zu erhellen und das jahrzehntelang Versäumte, ja Verdrängte, nachzuholen.

Die Exponate (etwa alte Röntgentechnik), Schautafeln und Medienstationen sollen "einem großen Publikum nahebringen, was Schreckliches passiert ist", sagte Prof. Stefan Schönberg, der Präsident der Deutschen Röntgengesellschaft. Die habe "das Thema bis 1995 komplett ausgeklammert". 2005 wurde auf einem Kongress "nur kurz erwähnt", dass Ärzte Verbrechen begangen haben. Für die Forschung stehe fest, dass keine Einzeltäter am Werk waren. "Es hat sich eine breite Gruppe schuldig gemacht", so Schönberg. Sie trage Mitschuld an 360 000 Zwangssterilisierungen, an der Ermordung von 200 000 Menschen mit Behinderung und an vielen weiteren Untaten im Dienst der "Volksgesundheit", der "Rassenhygiene" und einer ethisch völlig enthemmten Forschung. Heute könne die Deutsche Röntgengesellschaft voller Berechtigung sagen: "Wir haben uns unserer Vergangenheit gestellt!"

Ebenso die Gesellschaft für Radioonkologie. "Unser Verband wurde zwar erst 1995 gegründet", sagte dessen Präsident Normann Willich, aber diese zeitliche Distanz entlasse die Gesellschaft nicht aus der Verantwortung. "Denn wir haben eine 100-jährige fachliche Tradition." Die Ausstellung "dokumentiert den Willen, sich schlimmen Dingen in der Vergangenheit zu stellen". Die geleistete Aufklärungsarbeit soll außerdem dazu beitragen, "Ungerechtigkeiten in Zukunft zu verhindern".

Den Ärztlichen Kreisverband Ingolstadt-Eichstätt vertrat dessen Vorsitzender Carsten Helbig bei der Eröffnungsfeier im Koller-Saal. Er lenkte den Blick auch auf die Abgründe der digitalen Medien: "Diese Ausstellung setzt einen Kontrapunkt gegen Fake News und Info-Blasen."