Eichstätt
"Feinde" oder "Opfer" an den Stränden Lampedusas?

Kulturanthropologin Heidrun Friese berichtete über die Auswirkungen der Flüchtlingsströme auf die Insel

27.10.2016 | Stand 02.12.2020, 19:08 Uhr

Kulturanthropologin Heidrun Friese sprach über die sozialen Auswirkungen der Flüchtlingsströme auf Lampedusa.
- Foto: Kusche

Eichstätt (ddk) Lampedusa - immer wieder steht die kleine italienische Insel im Mittelpunkt weltweiten medialen Interesses. Nachrichten zeigen die Ankunft überfüllter Flüchtlingsboote aus Nordafrika oder in letzter Sekunde vor dem Schiffbruch geretteter traumatisierter Flüchtlinge. Auf der kleinen Mittelmeerinsel finden sie zunächst gastfreundliche Aufnahme. Doch wie wirkt sich der Ansturm von Flüchtlingen auf Lampedusa aus

Auf Einladung von Harald Pechlaner, Inhaber des Lehrstuhls für Tourismus an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU), berichtete die Kulturanthropologin Heidrun Friese, Professorin für Interkulturelle Kommunikation an der Technischen Universität Chemnitz, im Holzersaal der Sommerresidenz über die vielfältigen Konsequenzen der Flüchtlingsströme für die einstige Fischerinsel und die Grenzen ihrer Gastfreundschaft.

Eigentlich war die Kulturanthropologin Friese Anfang der 1990er-Jahre auf die kleine beschauliche Fischerinsel Lampedusa gekommen, um die Besiedlungsgeschichte des Eilands zu erforschen. Schon damals kamen die ersten Flüchtlinge aus Nordafrika, meist von Tunesien. Die steigende Zahl eröffnete Friese ein neues Arbeitsfeld: In den Fokus rückte nun Lampedusa als Ort der selbstverständlichen gastfreundlichen Aufnahme von Flüchtlingen, die heute, mehr als 20 Jahre später, in Strömen in die "Festung Europa" eintreffen sollten.

Schon als Friese 2007 auf die Insel zurückkehrte, sei die Situation für alle Beteiligten bereits sehr belastend, die Insel stark verändert gewesen. Dennoch: "Es gab und gibt immer ein hohes Maß an Gastfreundschaft." Dies hätte sich auch ab 2011 nicht geändert. "Es ist ein Teil dieses Fischerethos: man hilft dem Anderen selbstverständlich, was immer passiert, auf dem Meer und an Land - aber natürlich durchaus mit Ambivalenzen."

Ambivalent sieht Friese nicht nur die Frage der - inzwischen stark belasteten - Gastfreundschaft auf Lampedusa. Ambivalent stellt sich nach Frieses Ansicht vor allem das öffentliche Bild der Insel sowie der Flüchtlinge dar, das sich, allen voran durch die starke Präsenz der Massenmedien, herauskristallisiert habe. Als Ort des "Chaos", der bedrohlichen "Invasion" und des "Schreckens", so kritisierte Friese, stellten die Medien Lampedusa dar - Bilder, die der Realität nur bedingt gerecht würden. Andererseits habe Lampedusa auch eine gewisse "Entortung" erlebt, wenn beispielsweise in Halle eine große Hausaufschrift mit dem Titel "Lampedusa is everywhere!" oder in Hamburg und Berlin Bezirke mit dem Namen "Lampedusa Village" zu finden seien.

Wie kontrovers sich die gesellschaftlichen Imaginationen von den Geflüchteten als "Fremde" gestalteten, zeigte Friese auch mit den in Medien und im öffentlichen Leben verbreiteten Bildern von Flüchtlingen als "Feinde" oder als "Opfer". Im Feindbild des Flüchtlings, so die Wissenschaftlerin, werde die Bedrohung durch das Fremde hochstilisiert, mit eindrücklichen Bildern völlig überfüllter Boote oder an Grenzzäunen wartender Flüchtlinge Angst vor der "Invasion" geschürt und auch vor Rassismus nicht Halt gemacht. Dieses Feindbild habe drastische Konsequenzen, so betonte Friese: Es legitimiere schließlich Sicherheitspolitiken, Ausnahmezustand, Populismus und kolonialistisch anmutende Äußerungen.

Viele Hilfsorganisationen appellierten indes an Mitleid und betonten die passive Opferrolle der Flüchtlinge. Friese konnte eine weitere Perspektive ausmachen: der Flüchtling als Bild des Helden, der mit seiner Grenzüberschreitung den antikapitalistischen Kampf beginnt. Lässt sich bei der Existenz all dieser Bilder und Vorstellungen von einer "Politik der Gastfreundschaft" sprechen? Nein, keinesfalls, meint Heidrun Friese, weder Angstschüren noch die Entmündigung und Entwürdigung der vermeintlich passiven "Opfer" trage zu einer gastfreundlichen Kultur bei.

Genauso ambivalent und kritisch sieht Friese auch die äußerst lukrative "Gastfreundschaftsindustrie", die sich auf der Mittelmeerinsel entwickelt habe: "Finanziell hat Lampedusa natürlich sehr von der Anwesenheit vieler Flüchtlinge profitiert", räumte Friese ein, "viele neue Geschäftszweige haben sich entwickelt." Ob Filmemacher, Museen, Künstler, Theaterleute, Musiker oder findige Souvenirproduzenten - viele machten mit der Authentizität des Tods und des Untergangs anderer Geld. Doch auch Behörden, Polizei, Hilfsorganisationen, Security, Anbieter von Ferienwohnungen und Hotelzimmern, Restaurantbetreiber und Supermärkte profitierten von den Flüchtlingsströmen auf Lampedusa.

Dass diese Entwicklung auf der Fischerinsel nicht ohne Konflikte bleibe, sei selbstverständlich, wobei sie bisher noch nie ernste Worte der Lampedusani gegen die Flüchtlinge gehört habe: "Proteste gab es schon gegen die Regierung, die ein Aufnahme- in ein Abschiebelager verwandeln wollte", erinnert sich Friese, "die Lampedusani wollen keinesfalls eine ,Gefängnisinsel' sein."

An ihrer Gastfreundschaft halten sie fest, meint Friese, wenngleich auch mit Ambivalenzen. Denn Lampedusa, so ihr Fazit, sei zu einem Ort voller Paradoxien geworden.