Pfaffenhofen
Speedway als Medizin

Marcel Bicher fuhr für den MSC Pfaffenhofen und bekam seine ADHS-Krankheit durch den Sport in den Griff

02.12.2016 | Stand 02.12.2020, 18:58 Uhr

Große Unterstützung durch die Familie: Marcel Bicher (von links) mit seiner Mutter Sabine, Vater Thomas und Schwester Nora. Die gesamte Familie hat das Rennsportfieber gepackt. - Foto: Bicher

Pfaffenhofen (DK) Marcel Bicher aus Walpersbach in Niederösterreich leidet unter ADHS. Dabei geholfen, die Krankheit besser in den Griff zu bekommen, hat dem 15-Jährigen der Speedwaysport. In dieser Saison ging Bicher für den Motor Sport Club Pfaffenhofen an den Start.

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung) ist heutzutage eines der am häufigsten beschriebenen Krankheitsbilder im Kindes- und Jugendalter. Betroffene Kinder leiden unter ausgeprägter körperlicher Unruhe und starkem Bewegungsdrang (Hyperaktivität). Zu ihnen gehört auch Marcel Bicher. Dem Buben aus Walpersbach in Niederösterreich machen vor allem die Begleiterscheinungen dieser Krankheit zu schaffen. So findet er zu seinen Mitschülern kaum Anschluss und ist immer wieder von Depressionen geplagt. "Mittlerweile haben wir aber Marcels Probleme ganz gut im Griff", freut sich Mutter Sabine. Die Bichers haben in der Tat ein Rezept gefunden, das dem 15-Jährigen hilft, seine finsteren Gedanken hinter sich zu lassen: Speedway.

Vater Thomas, selbst ein begeisterter Fan des Sports, erinnert sich an die Anfänge: "Wir waren mit Marcel bei einem Rennen im kroatischen Gorican, da hat der Bub gesagt: ,Das ist cool, das möchte ich probieren.'" Schon bald trat der Vater in Aktion und baute für den damals Zehnjährigen ein erstes Motorrad. "Es war äußerst schwierig, die notwendigen Teile für ein 125-Kubikzentimeter-Bike zu bekommen", erzählt Thomas Bicher. "Das meiste Zubehör musste ich in England bestellen."

Auf Anhieb hatte der Bub mit seinem Bike großen Spaß und machte schnell Fortschritte. Schon ein Jahr später erfolgte der Umstieg auf 500-Kubikzentimeter-Aggregate. Seit mittlerweile drei Jahren driftet Marcel also schon mit der gleichen Motorisierung wie die Speedway-Profis, was für einen 15-Jährigen sehr ungewöhnlich ist.

Wie gut, dass es die Trainingsbahn in Eggendorf bei Wiener Neustadt noch gibt. Marcel trainiert dort während der Saison mindestens einmal pro Woche, was sich auch auszahlt: Einerseits kann er seine fahrerischen Fähigkeiten ständig verbessern, andererseits ist Marcel durch das häufige Training wesentlich ausgeglichener und muss daher weniger Medikamente einnehmen, wie seine Mutter berichtet. Seine fünf Jahre jüngere Schwester Nora hat das Rennsportfieber ebenfalls gepackt: Auch sie driftet hin und wieder mit ihrem KTM-Motorrad um das Trainingsoval und nahm sogar schon an einem Rennen teil.

Immer nur zu trainieren, ist natürlich nicht im Sinne des Speedwaysports. Heutzutage finden allerdings, mangels Fahrer und Veranstalter, in Österreich kaum noch Rennen statt. "Im Grunde ist bei uns der Sport so gut wie tot", sagt Vater Thomas. Es bleibt also nur die Möglichkeit, ins benachbarte Ausland zu fahren. Die Bichers sind daher sehr froh, dass sie entsprechende Kontakte nach Bayern knüpfen konnten. So kam Marcel heuer bei allen sechs Stationen der ADAC-Bahnsport-Bayerncup-Rennserie für das Team des MSC Pfaffenhofen zum Einsatz. "Der Bub und die Familie haben uns total begeistert", sagt MSC-Sportleiter Hans Postel. "Er zeigte immer vollen Einsatz und hat zudem ständig seine Teamkollegen angefeuert."

Voraussetzung, um in Deutschland an den Junioren-Rennen teilnehmen zu dürfen, ist der Besitz einer deutschen Lizenz. So wurde Marcel im Frühjahr quasi zum Speedway-Deutschen, was die Eltern keinesfalls stört: "Wichtig ist, dass er möglichst oft fahren kann. Als sich unser Bub im vergangenen Jahr bei einem Sturz die Schulter brach, war das nämlich nicht einfach", sagt Vater Thomas. Auch Marcel erinnert sich nur ungern an den Sommer 2015: "Die sieben Wochen Pause waren für mich die Hölle." So nutzen die Bichers beinahe jede Gelegenheit, damit ihr Sohn möglichst oft auf den Bahnen Europas trainieren kann. Über 20 000 Kilometer waren sie in diesem Jahr mit ihrem Kleinbus unterwegs.

Egal ob Norddeutschland, die Slowakei oder Kroatien: Der Familie ist kaum ein Weg zu weit. Manchmal treffen sie bei den Übungseinheiten auch die Stars der Szene. In Gorican beispielsweise waren zwei Weltklassefahrer von Marcel verblüfft. Sabine Bicher: "Wegen seiner Krankheit und der erforderlichen Medikamente muss er viel schlafen. Oft legt er sich bis zu zwei Stunden in den Bus, dann steht er auf und ist von einer zur anderen Sekunde richtig fit. Anschließend driftet er um die Bahn, als wenn nichts gewesen wäre."

Die Eltern betonen: "Durch den Sport bekommt Marcel die Akzeptanz, die ihm in der Schule verwehrt bleibt. Speedway ist für uns ein Glücksfall." Im kommenden Jahr wird er die Schule beenden, um anschließend eine Modellbauerlehre zu beginnen.

Aber auch sportlich soll es weiter vorangehen: Der nächste sinnvolle Schritt wäre die Teilnahme am Speedway-Teamcup (Zweite Bundesliga). Die Bichers hoffen sehr, dass sie bald einen Klub finden, für den der Bub im kommenden Jahr starten könnte. Die Pfaffenhofener haben bekanntlich mit Saisonende den Rennbetrieb bis auf Weiteres erst mal eingestellt.

Wenn man Marcel fragt, was er in seinem Sport erreichen will, kommt es wie aus der Pistole geschossen: "Weltmeister will ich werden. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg", gibt der 15-Jährige ehrlicherweise zu. Sein großes Vorbild ist Tai Woffinden aus England. Dem zweifachen Weltmeister ist die Familie sogar schon einmal persönlich begegnet. Im vergangenen Jahr, während des Grand-Prix-Wochenendes in Warschau, übernachteten sie zufälligerweise im selben Hotel. Dabei stellte Mutter Sabine Gemeinsamkeiten zwischen Tai und Marcel fest: "Beide sind ähnlich planlos und umtriebig im Flur umhergelaufen", erzählt sie und lacht. Auch beim Rennoutfit sind Ähnlichkeiten festzustellen. Wie der Doppelweltmeister ist auch der Youngster aus Niederösterreich auf der Bahn komplett in Schwarz unterwegs. Der einzige Unterschied: Auf Marcels Anzug und der Motorradverkleidung fehlen noch die bunten Logos von Sponsoren.