Ingolstadt
"Die deutsche Spielkultur stimmt"

01.07.2010 | Stand 03.12.2020, 3:53 Uhr

Für Michael Wiesinger beginnt am Sonntag eine neue Zeitrechnung: Der 37-Jährige startet beim FC Ingolstadt mit der Vorbereitung auf seine erste Zweitliga-Saison als Trainer. - Foto: Bösl

Ingolstadt (DK) Michael Wiesinger hat sich vor dem Trainingsauftakt des FC Ingolstadt am Sonntag (10 Uhr am Tuja-Stadion) noch eine kurze Auszeit gegönnt. Mit seiner Frau Ela und der kleinen Tochter Emma (16 Monate) verbrachte der 37-jährige Chefcoach des Zweitliga-Aufsteigers eine Woche auf Mallorca.

Trotzdem dreht sich für "Wiese", wie der 116-fache ehemalige Bundesligaspieler von Bayern und 1860 München sowie dem 1. FC Nürnberg von seinen Kollegen genannt wird, auch im Urlaub alles um den Fußball. Im Gespräch mit unserem Redakteur Gottfried Sterner äußert er sich zur WM, den Entwicklungen im Weltfußball und zum FC Ingolstadt.

Herr Wiesinger, können Sie als Trainer über die teilweise haarsträubenden Fehlentscheidungen bei der WM schmunzeln oder vergeht Ihnen da das Lachen?

Michael Wiesinger: Über so etwas kann ich natürlich nicht lachen. Seit Jahren wird diskutiert, wie man solche Fehler verhindern kann. Und dann wehrt man sich gegen moderne Technik, Hintertorkameras und den Chip im Ball. Dabei entscheiden solche Fehler letztlich eine Weltmeisterschaft. Das finde ich schon heftig.

Sie wären also sofort dafür, in der Bundesliga mit einem Chip im Ball und einer Torkamera zu arbeiten?

Wiesinger: Ich finde schon, dass man das nutzen soll. Man muss ja nicht den Fußball neu erfinden. Aber man entwickelt ja auch den Ball weiter, warum kann man dann nicht eine Torkamera einführen? England schießt im WM-Achtelfinale das 2:2, jeder im Stadion sieht es und alle Fernseh-Zuschauer weltweit, nur die drei Herrschaften in Schwarz nicht. Man sollte den Schiedsrichtern einfach mehr Hilfe geben.

Was sagen Sie zum WM-Ball "Jabulani"?

Wiesinger: Den kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass der Ball, den wir im Relegationsspiel in Rostock hatten, auch anders war als unser Adidas-Ball. Die Unterschiede sind schon offensichtlich und spielen eine Rolle, was die Schnelligkeit und Flugeigenschaft angeht. Ich finde es deshalb gut, dass die Bundesliga jetzt einheitlich mit dem gleichen Balltyp spielt. Dann kann man sich im Training darauf einstellen.

Sie sind seit sieben Wochen im Fußballlehrer-Lehrgang in Köln. Ist die WM auch Unterrichtsthema?

Wiesinger: Ja sicher. Wir greifen da immer wieder einzelne Aspekte auf, betreiben an Fallbeispielen Regelkunde, analysieren bestimmte Partien oder sprechen über neue Trends.

Welche Neuerungen haben Sie denn entdeckt?

Wiesinger: Es fällt schon auf, dass viele Mannschaften nur noch mit einem Stürmer spielen. Man geht wieder zurück zu den klassischen Außenstürmern. Das wird diskutiert. Außerdem finde ich, dass relativ wenige Tore aus Standardsituationen entstehen, auch die Kreativität ist nicht besonders groß. Dass die Abwehrpositionen immer wichtiger werden für die Spieleröffnung war schon das Thema bei der WM 2006. Aber das bestätigt sich in Südafrika erneut.

Wie finden Sie das Niveau der Spiele?

Wiesinger: Es geht ja jetzt erst los. Von Paraguay und Ghana einmal abgesehen, setzten sich die großen Namen durch. Das was jetzt kommt, ist für mich eine WM, das Teilnehmerfeld ist einfach zu groß.

Gab es Überraschungen?

Wiesinger: Es ist ganz offensichtlich, dass Erfolg nur über den Teamgeist geht. Bei den Franzosen hat jeder sein Ding gemacht, genauso die Italiener. Bei Brasilien oder Argentinien sieht das schon anders aus. Wer eine gute Stimmung erzeugt, der wird letztlich auch Weltmeister werden.

Hat Deutschland eine gute Chance?

Wiesinger: Bis auf die zehn Minuten nach dem 2:0 war das gegen England schon sehr gut. Die Mannschaft wird immer selbstbewusster und spielt eine gute WM. Bastian Schweinsteiger hat einen Riesenschritt gemacht, er ist der absolute Chef. Auch unsere Spielkultur stimmt. Schade, dass es jetzt gegen Argentinien geht, weil die für mich schon den besten Angriff haben. Dazu kassieren sie kaum Gegentore, sie sind sehr diszipliniert und haben einen Trainer, der sie ganz schön heiß macht.

Überrascht Sie Diego Maradona in der Trainerrolle?

Wiesinger: Er ist einfach ein Idol in Argentinien. Der hat im Fußball alles erreicht. Wenn der in der Kabine eine Ansprache hält, dann rennen und kämpfen die für ihr Land. Ich glaube, er kann das gut vermitteln. Das Viertelfinale wird hoch interessant, es könnte auch ein Endspiel sein.

Die WM ist aber nur bis Samstag Ihr Hauptthema, ab Sonntag steht für Sie mit dem Trainingsauftakt der FC Ingolstadt im Mittelpunkt.

Wiesinger: Natürlich, am Sonntag geht es los, und ich freue mich auch richtig darauf. Die Saison wird eine große Herausforderung. Wir haben aus dem Vorjahr viel Selbstvertrauen mitgenommen. Aber jeder weiß, dass die 2. Bundesliga eine andere Kategorie ist als die 3. Liga. Wir müssen uns alles neu erarbeiten.

Es fällt auf, dass der FC 04 im Vergleich zu anderen Vereinen seinen Kader nur wenig verändert hat.

Wiesinger: Das haben wir schon bewusst so gemacht. Wir haben einige erfahrene Spieler wie Sascha Kirschstein und Manuel Hartmann dazugeholt. Aber es sind viele junge Spieler im Kader, die sich jetzt beweisen müssen. Steven Ruprecht, David Pisot, Moritz Hartmann, um nur einige zu nennen. Wir glauben an sie und ihr Potenzial. Außerdem sind wir bei erhofften Neuzugängen finanziell auch an unsere Grenzen gestoßen.

Sie suchen aber noch einen Stürmer?

Wiesinger: Ein großer Stoßstürmer steht noch auf unserer Wunschliste. Das ist ein Spielertyp, den wir noch nicht haben. Wenn wir Geduld haben, bekommen wir da auch noch einen. Wir sind aber so aufgestellt, dass wir jetzt ohne Bedenken loslegen können.

Auch einige Spieler der bisherigen Mannschaft stehen im Fokus, beispielsweise Fabian Gerber. Nach einem schleppenden Anfang war er am Saisonende sehr wichtig. Soll er eine Säule im Team werden, insbesondere weil "Zecke" Neuendorf nicht mehr da ist?

Wiesinger: Die Aufgaben sollen schon auf mehrere Schultern verteilt werden. Was den Fabian betrifft, stimmt es, dass er eine schwierige Phase hatte. Aber er hat sich im Training immer wieder angeboten, und ich habe das registriert. Am Schluss hat er einen guten Job gemacht. Er hat auch die Erfahrung, da ist es schon wichtig, dass er mit gutem Beispiel vorangeht. Mit sind die Trainingsarbeit und Einstellung sehr wichtig, da brauche ich die alten Spieler, die die jungen immer wieder anschieben.

Patrick Mölzl, den Sie in der Winterpause als Verstärkung holten, kam bisher nicht in Schwung. Was erwarten Sie von ihm?

Wiesinger: Patrick ist ein selbstkritischer Spieler, das ist sehr wichtig. Er hat an sich andere Ansprüche. Wir sind so auseinandergegangen, dass er jetzt einen Neuanfang starten muss. Aber er weiß, dass die Konkurrenz groß ist.

Welche Rolle wird der FC Ingolstadt in der 2. Bundesliga spielen?

Wiesinger: Meine klare Vorgabe ist der Klassenerhalt. Wir wollen Abstand halten zu den Abstiegsrängen, alles andere ist bei mir nicht angesagt. Ich rechne damit, dass viele Mannschaften um den Aufstieg kämpfen. Wir dagegen wollen am Schluss nicht schwitzen müssen. Aber ich kenne meine Mannschaft sehr gut. Die Relegation gegen Rostock war eine 50:50-Situation. Was sie da gezeigt hat, war schon überzeugend, mit welcher mentalen Stärke sie da aufgetreten ist, hat mir sehr gut gefallen. Das ist für mich positiv für die neue Saison.