Ingolstadt
Technische Fußball-Revolution

Heute entscheidet die Fifa über den Einsatz von Torkamera und Chip im Ball

04.07.2012 | Stand 03.12.2020, 1:19 Uhr
Regel-Revolution im Fußball? Die Fifa entscheidet am Donnerstag über den Einsatz technischer Hilfsmittel für Schiedsrichter. Die Frage "Tor oder nicht Tor" soll nicht mehr dem menschlichen Auge überlassen werden. Dagegen entscheidet vielleicht bald ein Chip im Ball, ob das runde Leder im Netz ist oder nicht. −Foto: cairos

Ingolstadt (DK) Tor oder kein Tor, hat der Ball die Linie überschritten oder nicht? Das Wembley-Tor 1966 war der Urknall dieser Diskussion. Nun steht die leidige Debatte vor dem Abschluss. In einer TED-Umfrage möchten wir gerne Ihre Meinung zu diesem kontrovers diskutierten Thema wissen.

Donbass Arena Donezk, 19. Juni. Es läuft die 62. Minute, als der Ukrainer Marko Devic den Ball auf das englische Tor schießt. Er prallt von Englands Keeper Joe Hart in Richtung Tor. John Terry sprintet los und schlägt ihn zurück ins Feld. Der Ball war deutlich hinter der Linie, es wäre das 1:1 gewesen. Doch der Torpfiff bleibt aus. Weder Schiedsrichter Viktor Kassai noch der Torrichter haben erkannt, dass Terry den Ball erst klärte, als er die Linie überquert hatte. England siegt 1:0, Gastgeber Ukraine scheidet aus.
 
Tor oder kein Tor? War der Ball hinter der Linie oder nicht? Die Diskussion über technische Hilfsmittel, die Schiedsrichtern bei kniffligen Entscheidungen helfen, wurde durch das nicht gegebene Tor für die Ukrainer im EM-Spiel gegen die Engländer neu entfacht. Fifa-Präsident Joseph Blatter, der die Einführung der Technik fordert, twitterte nach dem „Torklau von Donezk“: „Nach dem Spiel ist die Torlinientechnologie keine Alternative mehr, sondern eine Notwendigkeit.“

Nun steht die leidige Debatte vor dem Abschluss. Das International Football Association Board, bei der Fifa für Regelfragen zuständig, trifft sich heute in Zürich, um über die Einführung der Torlinientechnologie zu entscheiden. Nach jahrelangen Tests haben sich zwei Systeme durchgesetzt, die zuverlässig anzeigen sollen, ob der Ball die Torlinie komplett überschritten hat: der Chip im Ball („GoalRef“), eine deutsche Entwicklung, und die Torkamera („Hawk-Eye“). Umstrittene Tore sollen dann ab der WM 2014 in Brasilien der Vergangenheit angehören.

Die Torkamera gilt im Moment als Favorit, Blatter ist ein großer Verfechter des Systems. Dabei werden bis zu sechs Hochleistungskameras auf dem Stadiondach und hinter jedem Tor aufgebaut, die alle auf das Tor fokussiert sind. Sie verfolgen den Ball und errechnen ständig dessen Position. Dann senden sie die Bilder an einen Rechner, der feststellt, ob der Ball im vollen Umfang die Torlinie überschritten hat. Mittels einer Armbanduhr erfährt der Schiedsrichter, wenn der Ball im Netz ist. Der Nachteil der Torkamera ist, dass sie nutzlos ist, wenn der Ball von einem Spieler verdeckt wird, beispielsweise, wenn der Torwart den Ball unter sich begräbt und mitsamt dem runden Leder hinter die Linie rutscht.

Noch präziser als die Torkamera soll der Chip im Ball sein. Dabei werden entlang den Strafraumlinien Kabel verlegt. Wenn durch die Kabel Strom fließt, entstehen zwei Magnetfelder. Der 15 Millimeter kleine Chip im Ball misst die Stärke des Magnetfeldes und strahlt ein Signal ab. Die abgestrahlten Signale rasen vom Ball zu Empfangsantennen, die meist an der Flutlichtanlage des Stadions montiert sind. Sie leiten die Signale an einen Rechner weiter, der auf fünf Millimeter genau ausrechnet, wo sich das runde Leder gerade befindet. Ist der Ball mit vollem Durchmesser im Tor, wird dies zur Armbanduhr des Schiedsrichters gesendet. Im Gegensatz zur Torkamera gehen die Magnetfelder durch alles hindurch. Der Chip kann so selbst im größten Strafraum-Gewimmel feststellen, ob der Ball im oder vor dem Tor liegt. Protest zwecklos.

Den ersten Versuch, mit Hilfe von technischen Hilfsmitteln über Tor oder nicht Tor, über Triumph und Tragödie zu entscheiden, gab es im Jahr 2005. Bei der U-17-WM wurde der Chip im Ball das erste Mal getestet, konnte jedoch nicht überzeugen. Bei den U-20- und U-17-Weltmeisterschaften 2007 wurde dann erstmals die Torkamera eingesetzt – fiel aber ebenfalls durch. Drei Jahre später verkündete die Fifa dann das endgültige Aus für Chip und Kamera. Doch nach zahlreichen Patzern der Unparteiischen bei der WM 2010 machte Blatter erneut eine Kehrtwende.

Die heutige Entscheidung darüber, ob technische Neuerungen 46 Jahre nach dem berühmten Wembley-Tor in den Fußball Einzug halten, gilt als offen. Genauso unterschiedlich ist die Haltung von Fifa und Uefa. Während Blatter für moderne Technologien plädiert, soll der Fußball nach Wunsch von Uefa-Chef Michel Platini dagegen „menschlich bleiben“. In der Ukraine werden sie dies nicht gerne hören.

Für Technik im Fußball

Das Experiment mit den Torrichtern ist gescheitert. Spätestens seit der Partie Ukraine gegen England und dem nicht gegebenen Treffer von Marko Devic müssen auch die letzten Befürworter der Torrichter einsehen, dass bestimmte Szenen zu schnell für das menschliche Auge ablaufen. Nur in der Superzeitlupe war zu erkennen, dass Englands John Terry den Ball erst knapp hinter der Torlinie erwischt. Wie hilfreich wäre in dieser Szene ein einfaches akustisches Signal an den Schiedsrichter gewesen?

Der Druck auf die Unparteiischen und ihre Assistenten hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Die Nutzung von technischen Hilfsmitteln kann diesen Druck entscheidend mindern. Fast alle Sportarten nutzen inzwischen technische Unterstützung: Der Videobeweis beim Eishockey oder das Hawk-Eye beim Tennis etwa klären strittige Entscheidungen zuverlässig, die Unterbrechungen sind minimal. Positiver Nebeneffekt: Für die Zuschauer im Stadion und an den Bildschirmen entsteht sogar eine Extra-Spannung.

Das Milliardengeschäft Fußball kann es sich nicht leisten, technische Innovationen zu ignorieren. Die Torlinientechnologie wird kommen. Es ist nur die Frage, wann. Und die Fußballromantiker werden auch in Zukunft genügend zu diskutieren haben. Ob Foul oder nicht – das kann keine Technik der Welt entscheiden.
 
Alexander Petri

Gegen Technik im Fußball

Im Streben nach Perfektion wollen die Befürworter von Torlinientechnologien menschliche Fehlentscheidungen vom Platz schaffen. Fällt ein Tor jedoch nach einer Abseitsstellung oder einem Handspiel auf der Linie, sieht das keine Technik der Welt. Um hundertprozentig richtig entscheiden zu können, müsste dann der Videobeweis her. Ständige Spielpausen wären die Folge. Der Fußball würde endgültig seine Seele verlieren.

Profifußballer spielen nach den gleichen Regeln wie Amateurkicker. Konsequenterweise müsste die Technik dann auch bis herunter zur Kreisklasse eingeführt werden. Das wird aufgrund der hohen Kosten kaum möglich sein. Was aber passiert, wenn dann im DFB-Pokal ein Amateurklub eine Fußball-Größe empfängt? Was passiert mit kleinen Verbänden, die sich die Technik nicht leisten können? Und angesichts der Differenzen zwischen Fifa und Uefa droht womöglich gar eine Lösung, die unterschiedliche Systeme bei unterschiedlichen Wettbewerben zulässt. Die Folge wäre ein Regelchaos.

Strittige Entscheidungen machen die Faszination des Spiels aus. Sie liefern den Stoff für jahrelange Diskussionen und bleiben oft stärker in Erinnerung als große Triumphe. Die Szene, die 1966 das Finale von Wembley entschied, wurde zum Mythos. Hätte der Schiedsrichter das Tor nicht gegeben, die Fußballgeschichte wäre um eine wichtige Facette ärmer.
 
Julia Pickl