Ingolstadt
"Erstaunlich, dass das so selten passiert"

Beschaffungsmanagement-Experte sieht Autobauer trotz des Lieferstopps bei VW sehr gut aufgestellt

24.08.2016 | Stand 02.12.2020, 19:23 Uhr

Ingolstadt (DK) VW und zwei Zulieferer haben sich einen erbitterten Streit geliefert, in dessen Folge Bänder beim größten Autobauer Europas kurzzeitig still standen. Dirk Hecht, Professor für Beschaffungsmanageá †ment an der Technischen Hochschule Ingolstadt (THI), erklärt, wie es dazu kommen konnte.

Herr Hecht, eine einzelne Zulieferergruppe legt den größten europäischen Autobauer lahm. Wie kann das passieren?

Dirk Hecht: Dazu muss man verstehen, wie Beschaffungsmanagement heute funktioniert. Ein Beispiel: Nehmen wir an, ein Hersteller hat 1000 Lieferanten und von diesen hat wiederum auch jeder wieder 1000 Lieferanten. Das sorgt für eine Komplexität der Lieferkette, wo der Hersteller nicht mehr jedes Detail wissen kann. Wenn man einen Lieferanten hat, der vielleicht auch noch weit weg sitzt, und dann Schwierigkeiten bekommt - etwa durch ein Hochwasser oder ein Erdbeben - können Probleme entstehen, die sich bis zum Endhersteller ziehen. Neben der Komplexität kann ein anderes Problem die Lieferantenstruktur sein. Mit großen Systemlieferanten wie Bosch ist es eher eine partnerschaftliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Die zweite Klasse sind die Mittelständler, die zwar nicht die Marktgröße haben, sich aber durch innovative Produkte unabdingbar machen. Solche Konstellationen können dazu führen, dass auch bei einem Hersteller mal die Bänder stehen.

 

Werden diese Strukturen bei großen Häusern wie VW nicht von einer Kontrollstelle im Einkauf überwacht, um die Abhängigkeit von einzelnen Zulieferern auszuschließen?

Hecht: Die gibt es. Man muss unterscheiden zwischen dem operativen Bestellmanagement und dem strategischen Beschaffungsmanagement. Im strategischen Beschaffungsmanagement werden eine ganze Reihe von modernen Methoden angewendet, wie Risikomanagement, Cost Engineering, Global Sourcing. Die Automobilindustrie in Deutschland ist hier extrem gut aufgestellt. Wenn man sich die Komplexität anschaut, ist es eigentlich erstaunlich, dass so etwas so selten passiert. Eine hundertprozentige Durchdringung der ganzen Supply Chain, da sind wir noch nicht.

 

Ist es also normal, dass es für manche Teile nur einen Zulieferer gibt?

Hecht: Der Beschaffer versucht bereits in einer frühen Entwicklungsphase, bei seiner Marktanalyse ein Wettbewerbsportfolio zu erstellen - eine sogenannte Bieterkreisliste. Das heißt, er macht sich Gedanken, wer auf der Welt diese Produkte herstellen kann. Gute Beschaffung funktioniert durch die beiden Hebel Transparenz - wer liefert was zu welchem Preis - und Wettbewerb. Aber es gibt hochkomplexe Produkte wie Getriebeteile, Sitze oder Motorenkomponenten, hinter denen steht jede Menge Entwicklung. Wenn ein Unternehmen bei jedem dieser Teile dreigleisig fährt, führt das zu Kosten. Das kann dazu führen, dass ein Unternehmen ein gewisses Risiko eingeht, aber sich auf der kommerziellen Seite nicht alles verdoppelt und verdreifacht. Das ist ein gewisses Abwägen.

 

Durch den Fall VW ist die extreme Abhängigkeit zwischen Autobauer und Zulieferer offensichtlich geworden. Sind die Autobauer dadurch erpressbar geworden?

Hecht: An einen Flächenbrand glaube ich nicht. Ich war selbst lange in der Automobilbranche und dort arbeitet man in 99 Prozent der Fälle sehr partnerschaftlich zusammen. Natürlich muss man Preisdiskussionen auch mal härter führen. Aber dass der Mittelstand sagt "Jetzt haben wir einen Vorreiter und jetzt hauen wir da alle rein", halte ich für höchst unwahrscheinlich.

 

In der Auseinandersetzung hieß es, Volkswagen versuche Preise zu diktieren. Sehen Sie dieses Problem?

Hecht: Nein, das sind immer Einzelfälle, die hochkochen, wenn es schief geht. In Deutschland wird in der Lieferantenstruktur im Großen und Ganzen sehr anständig gearbeitet.

 

Welche Möglichkeiten haben Autobauer, um sich unabhängiger zu machen. Ist eine Eigenherstellung von Teilen denkbar?

Hecht: Die Fragestellung "Selber machen oder nicht" ist nicht nur in der Automobilindustrie, sondern auch in der Flugindustrie, in der Schifffahrt und anderen immer wieder ein Thema. Was ist eigentlich unsere Kerneigenkompetenz? Es ist strategisch denkbar, das jetzt umzustellen, aber nicht von heute auf morgen.

 

Wie groß ist der Anteil der zugelieferten Teile in einem Auto?

Hecht: Etwa zwei Drittel der Teile werden mittlerweile zugekauft.

 

Mit Prevent war ein vergleichsweise kleiner Zulieferer an der Krise beteiligt. Was passiert dann erst, wenn es Probleme mit einem Großzulieferer gibt? Droht dann dem gesamten deutschen Automarkt der Kollaps?

Hecht: Die großen Systemlieferanten hätten natürlich andere Auswirkungen. Dann könnten bei BMW, Mercedes oder VW die Bänder noch länger still stehen. Die Erfahrung zeigt aber, dass man hier sehr vernünftig miteinander umgeht. Zudem ist Bosch einer der ganz großen Innovationstreiber. Die hätten natürlich auch etwas zu verlieren.

 

Könnte ein Streit wie zwischen VW und Prevent auch auf VW-Tochterfirmen wie Audi übergreifen?

Hecht: Im konkreten Fall kann ich das nicht beurteilen. Grundsätzlich ist es aber so, dass Unternehmen versuchen, in sogenannten Baukästen zu arbeiten - beispielsweise wenn es darum geht, wie der Motor vorne drin sitzt. Diese Plattformen sind extrem synergetisch. Wenn es jetzt um ein Teil geht, das in einem Baukasten eine kritische Rolle spielt, kann es dazu führen, dass dieser Baukasten flächendeckend betroffen ist - stärker, als wenn man einzelne Insellösungen hat.

 

Die Fragen stellte

Daniel Wenisch.