Istanbul
Die "Gäste" wollen raus aus der Türkei

Zwei Millionen Syrer sind in das Nachbarland geflohen – Viele sehen dort aber keine Zukunft für sich

21.09.2015 | Stand 02.12.2020, 20:46 Uhr

Istanbul (AFP) Im Morgengrauen machten sich die Menschen auf den Weg – zu Fuß ins 2000 Kilometer entfernte Deutschland. Seit der vergangenen Woche hatten syrische Flüchtlinge am Busbahnhof der türkischen Metropole Istanbul versucht, Tickets für die Fahrt in die Stadt Edirne an der bulgarischen Grenze zu bekommen.

Doch die Busbetreiber weigerten sich, den Syrern Fahrkarten zu verkaufen. Deshalb marschierten gestern mehrere hundert Flüchtlinge über die Autobahn Richtung Edirne, bis sie von der Polizei gestoppt wurden – das jüngste Zeichen dafür, dass immer mehr Syrer die Türkei verlassen wollen.

Türkische Politiker sind ratlos. Hat ihr Land in den viereinhalb Jahren seit dem Ausbruch des Krieges beim südlichen Nachbarn nicht alles getan, um Not leidenden Flüchtlingen zu helfen? Rund zwei Millionen Syrer leben heute in der Türkei, die Regierung hat fast sieben Milliarden Euro für ihre Betreuung ausgegeben. Die 25 Flüchtlingslager in der Türkei zählen international zu den besten. Und doch riskieren tausende Syrer Kopf und Kragen, um aus der Türkei herauszukommen.

„Warum habt ihr uns verlassen“, fragte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan deshalb kürzlich am Telefon den Syrer Abdullah Kurdi, dessen kleiner Sohn Ailan bei der Überfahrt nach Griechenland ertrank und zum Symbol der Flüchtlingskrise wurde. Auch Ailans Bruder und Mutter kamen um. Kurdis Familie hätte nicht sterben müssen, wenn sie in der Türkei geblieben wäre, sagte Erdogan.

Jussef, ein 25-jähriger Ingenieur aus Syrien, der wie viele andere seiner Landsleute derzeit versucht, über Edirne nach Westeuropa zu kommen, kann erklären, warum so viele Syrer weg wollen. „Wie die Sklaven“ müssten Syrer in der Türkei schuften, um sich über Wasser zu halten, sagt Jussef. „Jetzt versuchen wir, nach Europa zu kommen, um endlich wie normale Menschen leben zu können.“

Viele Flüchtlinge in der Türkei verdingen sich zu Niedriglöhnen als Schwarzarbeiter auf dem Bau oder auf den Feldern. Offiziell arbeiten darf ein Ingenieur wie Jussef in der Türkei nicht. Damit gibt es kaum Möglichkeiten für Flüchtlinge, sich in der Türkei eine neue Existenz aufzubauen.

Das liegt an der türkischen Gesetzgebung. Das Land erkennt Syrer nicht als Flüchtlinge an, weil grundsätzlich nur Flüchtlinge aus Europa einen offiziellen Asylstatus erhalten können. Syrer, Iraker und andere sind „Gäste“, die geduldet werden. Das habe Folgen, sagt Murat Erdogan, Migrationsforscher an der Hacettepe-Universität in Ankara: „Gäste haben keine Rechte, Flüchtlinge schon.“

Metin Corabatir, Leiter des Migrations-Forschungsinstituts Igam in Ankara, sieht deshalb die Leistungen der Türkei bei der Aufnahme der Syrer in den vergangenen Jahren in Gefahr. „Die Türkei fing als Erfolgsstory an, mit ihren Fünf-Sterne-Auffanglagern und der Politik der offenen Tür“, die jedem Syrer die Aufnahme garantiert, sagte Corabatir. „Doch jetzt wird sie zu einer Story des Scheiterns.“

Da neue Schritte Ankaras zur Integration der Syrer ausbleiben, sind viele von ihnen zur Weiterreise nach Westeuropa entschlossen. „Ich sehe hier keine Zukunft für mich“, sagt Dschihad, ein 22-jähriger Chemie-Student, über die Türkei. Freunde in Europa ermuntern ihn, die beschwerliche Reise nach Westen aufzunehmen: „Sie sagen, trotz aller Hindernisse sei in Europa alles viel besser.“