Willkommen im "Hotel Savoy"

08.10.2010 | Stand 03.12.2020, 3:36 Uhr

Ein Theaterwunder: Brigitte Hobmeier in einer ihrer sieben Rollen an diesem Abend als hochschwangere Frau Santschin. - Foto: Blievernich

München (DK) Die Franzosen haben so schöne Worte: "Le monde intermédiaire" ist die Zwischenwelt, der Raum zwischen zwei Lebenssphären, aber auch die Spanne zwischen Leben und Tod.

In einem solchen Zwischen-Raum findet sich der Kriegsheimkehrer Gabriel Dan, als er im Jahr 1919 in Lodz eines der billigsten Zimmer des Hotels Savoy bezieht, um dort seine Zukunft zu planen. An einer Schwelle befindet sich auch Johan Simons, der gerade neu angetretene Intendant der Kammerspiele, aus der freien Szene in den Niederlanden in das wohlgefederte Korsett eines städtischen Vorzeigehauses schlüpfend. Alte Bekannte mögen hilfreich sein bei solch einem Paradigmenwechsel und so hat er, der den Roman "Rechts und Links" als Lieblingsbuch nennt und für München bereits Joseph Roths "Hiob" dramatisierte, sich quasi mit dem Buch in der Hand am neuen Arbeitsplatz eingefunden.

Es ist ein für Münchner Verhältnisse verblüffendes Statement, nicht mit einem der großen Reißer und dem gesammelten Bühnenzauber des geschichtsträchtigen Jugendstilbaus an der Maximilianstraße zu eröffnen, und Simons bekräftigt damit seinen Vorsatz, das Theater in die Stadt hinein zu tragen. Das ehemals "neue Haus" heißt jetzt "Spielhalle" und wird in einem Einheitsbühnenbild im Erdgeschoss bespielt. Der Weg dorthin glitzert glühbirnenverliebt wie ein Christkindelmarkt.

Der Schauplatz macht mit seiner voll einsichtigen Raumbühne, die das Publikum in zwei Gruppen sich gegenübersitzend anordnet, zunächst wenig her. Der neue Raum entpuppt sich schließlich aber als virtuos bespielbarer Zauberkasten mit praktikabler Unterbühne, reichhaltigen Auftrittsmöglichkeiten (sogar mittels eines Aufzuges, der als Seitenbühne fungiert) und der angemessenen Ausstattung an Licht- und Nebelmaschinerie.

Zweieinviertel Stunden ohne Pause geht es dann zur Sache – Simons jagt den heimgekehrten Soldaten durch die vielfältigen Höllen und karge Himmel des Romans, als wäre er auf der Flucht – und jagt das Publikum durch manche Ermüdung und Länge, aber auch durch viele glänzend geglückte Theatermomente.

Dabei ist die Dramatisierung, bearbeitet von Koen Tachelet, höchst problematisch, obwohl – oder eben weil – sie den Roman so wörtlich zu nehmen bestrebt ist. Gesprochene Szenenanweisungen klingen hier nach Blindenversionen von TV-Sendungen und töten die Szene. Naturgemäß muss aus vielen inneren Vorgängen des Buches am Theater ein Dialog werden, aber hier scheinen die Schauspieler bei solchen Passagen oft förmlich Treibsand einzuatmen. Der Roman ist aus Perspektive eines Ich-Erzählers geschildert, aber wo ein Schauspieler einen Abend zu eröffnen hat mit den Worten: "Gabriel Dan. Heimkehrer. Ich kehre aus dreijähriger Kriegsgefangenschaft in Russland zurück", entsteht eine befremdliche Therapiestunden-Atmosphäre, die dem Rest des Abends nicht gerecht wird.

Dabei ist die Schauspielerriege, die diese Roman-Dramatisierung in eiserner Disziplin trägt, vom Feinsten: Allen voran eben jener Gabriel Dan, dem Steven Scharf eine ruhelose, hohlwangige Hellsichtigkeit und Dominanz verleiht, die dem Selbstporträt des jungen Joseph Roth sehr angemessen ist. Neu im Ensemble ist die Darstellerin seiner vergebens angebeteten Mitbewohnerin Stasia, Katja Herbers, an deren Akzent man sich gewöhnen wird, die aber eine charmant-lebensfeste Revuemaus zu bieten hat, die man nicht so schnell vergisst. Ebenfalls neu in München ist Pierre Bokma, als ältlicher Liftboy Ignatz der eigentliche Strippenzieher des Hotels – die Hand Gottes für alle Gäste der billigen Etagen.

Wolfgang Pregler spielt Gabriels Freund Zwonimir, den erdduftenden Revolutionär, den er mit viel exaltierten Aktionismus und Empathie ausstattet.

Aber der eigentliche Glanz der Vorstellung geht von der unglaublichen Brigitte Hobmeier aus, die sich in alle ihre sieben Rollen so verliebt zu haben scheint, dass sie sie gleichberechtigt mit ihrem großen schauspielerischen Können verwöhnt.

Der Abend ist ein Panoptikum am offenen Grab – ein sonderbarer Einstieg in eine neue Ära.