Salzburg
Das Wunder von Venezuela

26.07.2013 | Stand 02.12.2020, 23:51 Uhr

Ein Mädchen umarmt ihre Violine, ein Junge übt auf einem Hinterhof Schlagzeug, El-Sistema-Gründer Juan Abreu lacht. Leica präsentiert bis zum 9. August in Salzburg eine Schau mit Fotos über den musikalischen Alltag von El Sistema: Bilder von der Macht der Musik in einem armen Land - Fotos: Kohout/Leica

Salzburg (DK) Alexander Pereira, Intendant der Salzburger Festspiele, hat etwas gewagt, was es bei einem Hochkulturfestival nie zuvor gegeben hat: Er hat vier Orchester, etliche Chöre, insgesamt mehr als 1300 Kinder und Jugendliche aus Venezuela eingeladen, das Projekt El Sistema vorzustellen – in Salzburg und an diesem Sonntag in Ingolstadt.

Wenn er von dieser Initiative spricht, greift er zu starken Worten. Vor zwei Jahren hätte er Venezuela besucht, um El Sistema kennenzulernen. Und er hätte „so wunderbare Dinge erlebt, dass einem die Tränen in den Augen standen“. Dabei wendet er sich lächelnd dem ernsten Mann neben sich zu. Dem Mann, der dieses Wunder von Venezuela ins Leben gerufen hat und es bis heute lenkt: Juan Antonio Abreu (74). Ein kleiner, zerbrechlich wirkender Mann mit eingefallenen Wangen und einer leisen Stimme, der sich beim Treppensteigen helfen lässt und in seiner schwarzen Kleidung, wie ein Existenzialist der 60er Jahre wirkt. Ein Mann, von dem man mit einem gewissen Recht behaupten kann, dass er mehr bewirkt hat als jeder andere lebende Musiker. Wenn es überhaupt so etwas gibt, dann ist er der Held der klassischen Musik.

Abreu, ein Wirtschaftsprofessor und Musiker, hat 1975 El Sistema, das System, gegründet. Der Begriff klingt wenig vertrauenserweckend, etwa so wie Planwirtschaft. Tatsächlich ist es etwas ganz anderes: das wichtigste und größte Sozialprojekt Venezuelas und zweifellos eines der größten weltweit. Es ist nichts weniger als der Versuch, mithilfe der Musik die Welt zu retten. Rund 400 000 Kinder und Jugendliche werden derzeit in einem weitverzweigten System von Musikschulen und Orchestern betreut. Zwei Millionen haben bereits an diesem Programm teilgenommen. Zurzeit gibt es 286 Musikzentren mit 1500 Lehrern, weit über 100 Jugendorchester und gut 50 Kinderorchester. Da viele der Jugendlichen tatsächlich Musiker werden wollten, existieren 30 Sinfonieorchester.

1975 begann der Volkswirt, Jurist und Dirigent Abreu buchstäblich aus einem Nullpunkt heraus. In Venezuela gab es nur ein einziges Sinfonieorchester und das war hauptsächlich mit europäischen Emigranten besetzt. Bei der ersten Orchesterprobe kamen gerade einmal elf Kinder. Eigentlich hatte er mit mehr Freiwilligen gerechnet und daher 100 Notenständer besorgt. „Ich war ein wenig enttäuscht“, gibt er zu. Aber Abreu ist auch ein unverbesserlicher Optimist: „Ich weiß noch, dass ich diesen Jugendlichen am Abend versprach, aus diesem Orchester eines Tages eines der wichtigsten Orchester der Welt zu machen.“

Der Durchbruch gelang Abreu einige Monate später. Er gab mit seinem Orchester ein Konzert anlässlich einer Ausstellungseröffnung im städtischen Museum. Minister und andere Politiker hörten die völlig begeisterten jungen Leute und sagten sofort dauerhafte Unterstützung für das Projekt zu. El Sistema war geboren und wird tatsächlich seit dieser Zeit kontinuierlich vom Staat finanziert.

Abreu betont immer wieder, dass El Sistema in erster Linie ein Sozialprojekt ist. Die Musikschulen, die er gegründet hat, stehen fast immer in sozialen Brennpunkt-Gebieten, etwa in den illegalen Vorstädten. Für die Kinder ist es eine Möglichkeit, der Arbeitslosigkeit, dem Alkoholismus, der Obdachlosigkeit und dem Hunger zu entkommen. Sie bekommen ein Instrument gestellt und kostenlosen Unterricht. Wenn sie sich bemühen, steht ihnen ein Stipendium zu, mit dem die gesamte Familie ernährt werden kann. „Hier reißen Kinder ihre Eltern, Tanten und Onkel aus dem Elend. Die Orchester sind überall der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens“, erzählt Abreu. Eine besondere El-Sistema-Lehrmethode gibt es dabei nicht. Aber von Anfang an wird zusammen in kleinen und großen Ensembles musiziert. Teamwork, Disziplin und Sensibilität werden hier ausgebildet, die später auch für andere Berufe von großer Bedeutung sind, betont der El-Sistema-Gründer.

Inzwischen entwickelt sich Venezuela mit großen Schritten hin zur Industrienation. Das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum der vergangenen zehn Jahre lag bei über zehn Prozent. Analphabetismus, Säuglingssterblichkeit, Armut, soziale Ungleichheit – all diese wirtschaftlichen Indikatoren wiesen seit Jahren nach unten. Vielleicht ist es nicht ganz abwegig, anzunehmen, dass auch das musikalische Bildungsprogramm El Sistema diese positive Entwicklung mitverursacht hat.

Aber El Sistema ist auch künstlerisch ein Erfolg. „Als wir hundert Mitglieder hatten, mussten wir umschwenken, nicht mehr nur Wert auf viele Mitglieder legen, sondern auch höchstes musikalisches Niveau anstreben“, sagt Abreu in Salzburg. Der Klangkörper, der sich nun Simon-Bolivar-Orchester nannte, trat, wo immer es möglich war, im Ausland auf. Bald interessierten sich Dirigenten wie Daniel Barenboim, Simon Rattle oder Claudio Abbado für die fantastischen jungen Begabungen und kamen zu monatelangen Probenaufenthalten nach Venezuela. Das Orchester brachte den inzwischen weltberühmten Dirigenten Gustavo Dudamel (32) hervor, derzeit der Chef des Los Angeles Philharmonic Orchestra. Und Musiker aus diesem Orchester kamen bald in Spitzenorchestern wie etwa bei den Berliner Philharmonikern unter. Das Simon-Bolivar-Jugendorchester aber zählt heute zu den besten Klangkörpern überhaupt. Zweimal bereits gastierte es bei den Salzburger Festspielen.

Diesmal allerdings geht es um weit mehr. Festspiel-Intendant Pereira und Abreu haben sich vorgenommen, El Sistema in seiner gesamten Bandbreite in Salzburg zu präsentieren. Vier Orchester und mehrere Chöre residieren an der Salzach. „Das bringt das Festival an seine Grenzen“, gibt Florian Wiegand zu, der für die Salzburger Festspiele als Kulturmanager die Musiker aus Venezuela betreut. „Eigentlich ist das schon ein Festival im Festival“, sagt er. „Von etwa 90 Konzerten sind 14 von El Sistema.“

Wiegand hat insgesamt 143 Transfers geplant, mal mit dem Flugzeug, mal mit Bussen. Allein zehn Busse mussten kommen für die gewaltige achte Sinfonie von Gustav Mahler, dazu noch etliche Lastwagen mit den Instrumenten. Bei den Proben sitzen Kontrabassisten auf Barhockern, da ständig 80 bis 90 Kontrabässe benötigt werden und nicht genügend echte Kontrabass-Stühle vorhanden sind. In Ingolstadt sind Stühle für 20 Kontrabässe angefragt. „Aber wir werden nicht umhinkommen, einige Stühle selbst mitzubringen“, erzählt der gebürtige Münchner, der trotz der gigantischen logistischen Herausforderung keinesfalls überfordert oder angestrengt wirkt.

Untergebracht sind die jungen Musiker auf dem Campus zweier Fachhochschulen außerhalb des Stadtgebiets. Geprobt wird auch in den üblichen Probenräumen der Festspiele. Die sind allerdings berstend voll, da regelmäßig in riesenhaften Besetzungen von 160 bis 180 Musikern musiziert wird. Platzangst überkommt einen, wenn man die Probe des Teresa Carreno Youth Orchestra besucht und die bis zu jeder Wand dicht zusammengedrängt spielenden jungen Leute sieht. Ein Höllenlärm tobt durch den Raum, das Einspielen will kein Ende nehmen. Und dann das Wunder. Plötzliche Stille, die ersten Takte einer Holzbläserpassage erklingen, ein homogener, zauberhaft weicher Klang. Die Probe verläuft in absoluter Konzentration, ohne Geflüster, ohne jede Störung.

Florian Wiegand erzählt von einer gänzlich anderen Musikkultur. Konzerte werden wochenlang vorbereitet. Geprobt wird nicht wie in Europa oder den USA nach strengem Zeitplan, sondern einfach so lange, bis man fertig ist. Nicht selten dauert das mehr als sieben oder acht Stunden. Aber das Zeitgefühl ist grundsätzlich anders. Manchmal beginnt eine Probe einfach mal eine Stunde später. Die jungen Musiker sind stets gut gelaunt, lebensfreudig und streiten nicht. Bisher kam es zu keinen Zwischenfällen oder Beschwerden. Organisatoren, die mit den Musikern zu tun hatten, berichten vom ungewöhnlich höflichen Benehmen der jungen Leute.

Außer den renommierten Sinfonieorchestern sind auch zwei Ensembles zum ersten Mal auf Konzertreise: Ein Orchester mit Kindern unter 13 Jahren, die unter der Leitung von Simon Rattle Mahlers 1. Sinfonie spielen. Sowie der White Hands Choir, dessen Mitglieder geistig behindert, querschnittsgelähmt oder auch ohne jedes Handicap sind. Ein zweiter Teil des Chores sind taubstumme Kinder, die mit weißen Handschuhen die Musik in die Luft malen, so wie sie die Vibrationen erleben oder was ihnen von der Musik erzählt wurde.

Abreu hält den Besuch in Salzburg für eine Wendemarke. Während in Venezuela in reger Bautätigkeit neue Konzertsäle und Musikschulen aus dem Boden schießen, und bald nicht nur 400 000 Kinder und Jugendliche kostenlos unterrichtet werden sollen, sondern eine Million, strebt der Wirtschaftsprofessor nun eine weitere Ausweitung seiner Initiative an. Er nennt sie „El Sistema weltweit“. In bereits 25 Ländern gibt es Ableger des Projekts, viele davon in Lateinamerika, aber auch in Österreich, Italien, Kroatien, Angola oder Australien. In Salzburg treffen sich Kinder aus vielen Ländern, um gemeinsam zu musizieren und zur Fortbildung der Musiklehrer. Deutschland ist nicht dabei, hier gibt es noch keine El-Sistema-Initiative.

In Salzburg möchte man mit diesem Engagement eine Botschaft aussenden, betont Intendant Pereira. Eine Mahnung, die Musikerziehung nicht weiter zu vernachlässigen.

Was in Venezuela möglich ist, sollte doch in den reichen Industrieländern ebenfalls zu verwirklichen sein. Wenn man auf die Bildungsleidenschaft dieses lateinamerikanischen Volkes blickt, dann wähnt man sich aber in Deutschland wie in einem kulturellen Entwicklungsland. Kommentar Seite 2